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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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ein Kleid, sondern der Leib selbst seyn. Selbst die vollendete Dichtung
im Sinn der rein-mystischen Poesie würde eine Absonderung im Dichter,
sowie in denen, für welche er dichtet, voraussetzen, sie wäre nie rein,
nie aus dem Ganzen der Welt und des Gemüths gegossen.

Die Grundforderung an alle Poesie ist -- nicht universelle Wir-
kung, aber doch Universalität nach innen und außen. Partialitäten
können hier am wenigsten geltend seyn. Zu jeder Zeit sind nur einige
gewesen, in welchen sich ihre ganze Zeit und das Universum, sofern
es in dieser angeschaut wird, concentrirt hat, diese sind berufene Dich-
ter. Nicht die Zeit, sofern sie selbst eine Partialität, sondern sofern
Universum, Offenbarung Einer ganzen Seite des Weltgeistes. Wer
den ganzen Stoff seiner Zeit, sofern sie als Gegenwart auch die Ver-
gangenheit wieder begreift, poetisch unterjochen und verdauen könnte,
wäre der epische Dichter seiner Zeit. Universalität, die nothwendige
Forderung an alle Poesie, ist in der neueren Zeit nur dem möglich,
der sich aus seiner Begrenzung selbst eine Mythologie, einen abge-
schlossenen Kreis der Poesie schaffen kann.

Man kann die moderne Welt allgemein die Welt der Individuen,
die antike die Welt der Gattungen nennen. In dieser ist das Allge-
meine das Besondere, die Gattung das Individuum; darum ist sie,
obgleich in ihr das Besondere herrschend ist, doch die Welt der Gat-
tungen. In jener bedeutet das Besondere nur das Allgemeine, und
eben darum ist, weil in ihr das Allgemeine herrscht, die moderne
Welt die der Individuen, des Zerfallens. Dort ist alles ewig, dauernd,
unvergänglich, die Zahl hat gleichsam keine Gewalt, da der allgemeine
Begriff der Gattung und des Individuums in eins fällt, hier -- in
der modernen Welt -- ist Wechsel und Wandel das herrschende Gesetz.
Alles Endliche vergeht hier, da es nicht an sich selbst ist, sondern nur,
um das Unendliche zu bedeuten.

Der allgemeine Weltgeist, der auch an der Natur und dem
Weltsystem die Unendlichkeit der Geschichte nur gleichsam concret
aufgestellt hat, hat denselben Gegensatz, den der alten und der neuen
Zeit, im Planetensystem und der Kometenwelt aufgestellt. Die Alten

ein Kleid, ſondern der Leib ſelbſt ſeyn. Selbſt die vollendete Dichtung
im Sinn der rein-myſtiſchen Poeſie würde eine Abſonderung im Dichter,
ſowie in denen, für welche er dichtet, vorausſetzen, ſie wäre nie rein,
nie aus dem Ganzen der Welt und des Gemüths gegoſſen.

Die Grundforderung an alle Poeſie iſt — nicht univerſelle Wir-
kung, aber doch Univerſalität nach innen und außen. Partialitäten
können hier am wenigſten geltend ſeyn. Zu jeder Zeit ſind nur einige
geweſen, in welchen ſich ihre ganze Zeit und das Univerſum, ſofern
es in dieſer angeſchaut wird, concentrirt hat, dieſe ſind berufene Dich-
ter. Nicht die Zeit, ſofern ſie ſelbſt eine Partialität, ſondern ſofern
Univerſum, Offenbarung Einer ganzen Seite des Weltgeiſtes. Wer
den ganzen Stoff ſeiner Zeit, ſofern ſie als Gegenwart auch die Ver-
gangenheit wieder begreift, poetiſch unterjochen und verdauen könnte,
wäre der epiſche Dichter ſeiner Zeit. Univerſalität, die nothwendige
Forderung an alle Poeſie, iſt in der neueren Zeit nur dem möglich,
der ſich aus ſeiner Begrenzung ſelbſt eine Mythologie, einen abge-
ſchloſſenen Kreis der Poeſie ſchaffen kann.

Man kann die moderne Welt allgemein die Welt der Individuen,
die antike die Welt der Gattungen nennen. In dieſer iſt das Allge-
meine das Beſondere, die Gattung das Individuum; darum iſt ſie,
obgleich in ihr das Beſondere herrſchend iſt, doch die Welt der Gat-
tungen. In jener bedeutet das Beſondere nur das Allgemeine, und
eben darum iſt, weil in ihr das Allgemeine herrſcht, die moderne
Welt die der Individuen, des Zerfallens. Dort iſt alles ewig, dauernd,
unvergänglich, die Zahl hat gleichſam keine Gewalt, da der allgemeine
Begriff der Gattung und des Individuums in eins fällt, hier — in
der modernen Welt — iſt Wechſel und Wandel das herrſchende Geſetz.
Alles Endliche vergeht hier, da es nicht an ſich ſelbſt iſt, ſondern nur,
um das Unendliche zu bedeuten.

Der allgemeine Weltgeiſt, der auch an der Natur und dem
Weltſyſtem die Unendlichkeit der Geſchichte nur gleichſam concret
aufgeſtellt hat, hat denſelben Gegenſatz, den der alten und der neuen
Zeit, im Planetenſyſtem und der Kometenwelt aufgeſtellt. Die Alten

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[444/0120] ein Kleid, ſondern der Leib ſelbſt ſeyn. Selbſt die vollendete Dichtung im Sinn der rein-myſtiſchen Poeſie würde eine Abſonderung im Dichter, ſowie in denen, für welche er dichtet, vorausſetzen, ſie wäre nie rein, nie aus dem Ganzen der Welt und des Gemüths gegoſſen. Die Grundforderung an alle Poeſie iſt — nicht univerſelle Wir- kung, aber doch Univerſalität nach innen und außen. Partialitäten können hier am wenigſten geltend ſeyn. Zu jeder Zeit ſind nur einige geweſen, in welchen ſich ihre ganze Zeit und das Univerſum, ſofern es in dieſer angeſchaut wird, concentrirt hat, dieſe ſind berufene Dich- ter. Nicht die Zeit, ſofern ſie ſelbſt eine Partialität, ſondern ſofern Univerſum, Offenbarung Einer ganzen Seite des Weltgeiſtes. Wer den ganzen Stoff ſeiner Zeit, ſofern ſie als Gegenwart auch die Ver- gangenheit wieder begreift, poetiſch unterjochen und verdauen könnte, wäre der epiſche Dichter ſeiner Zeit. Univerſalität, die nothwendige Forderung an alle Poeſie, iſt in der neueren Zeit nur dem möglich, der ſich aus ſeiner Begrenzung ſelbſt eine Mythologie, einen abge- ſchloſſenen Kreis der Poeſie ſchaffen kann. Man kann die moderne Welt allgemein die Welt der Individuen, die antike die Welt der Gattungen nennen. In dieſer iſt das Allge- meine das Beſondere, die Gattung das Individuum; darum iſt ſie, obgleich in ihr das Beſondere herrſchend iſt, doch die Welt der Gat- tungen. In jener bedeutet das Beſondere nur das Allgemeine, und eben darum iſt, weil in ihr das Allgemeine herrſcht, die moderne Welt die der Individuen, des Zerfallens. Dort iſt alles ewig, dauernd, unvergänglich, die Zahl hat gleichſam keine Gewalt, da der allgemeine Begriff der Gattung und des Individuums in eins fällt, hier — in der modernen Welt — iſt Wechſel und Wandel das herrſchende Geſetz. Alles Endliche vergeht hier, da es nicht an ſich ſelbſt iſt, ſondern nur, um das Unendliche zu bedeuten. Der allgemeine Weltgeiſt, der auch an der Natur und dem Weltſyſtem die Unendlichkeit der Geſchichte nur gleichſam concret aufgeſtellt hat, hat denſelben Gegenſatz, den der alten und der neuen Zeit, im Planetenſyſtem und der Kometenwelt aufgeſtellt. Die Alten

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/120>, abgerufen am 27.11.2024.