Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

-- da also die Einheiten der Sprache schon organische Glieder, Sylben
sind, und sich die qualitative Bestimmung nicht auf Höhe und Tiefe der
Töne beziehen kann, so bleibt nichts übrig, worin sie bestehen könnte,
als die Auszeichnung einer Sylbe durch eine Hebung der Stimme, wo-
durch eine Anzahl anderer Sylben mit ihr verbunden und diese Einheit
dem Gehör fühlbar gemacht wird, und dagegen -- Fallenlassen der
anderen Sylben durch ein Sinken der Stimme. Dieß ist aber, was
Accent heißt 1.


Ich gehe nun zu den einzelnen Dichtarten fort, indem ich
folgendes Allgemeine vorausschicke.

Gedicht überhaupt ist ein Ganzes, das seine Zeit und Schwung-
kraft in sich selbst hat, und dadurch von dem Ganzen der Sprache ab-
gesondert, vollkommen in sich selbst beschlossen ist.

Eine unmittelbare Folge dieses in-sich-selbst-Seyns der Rede
durch Rhythmus und Sylbenmaß ist, daß die Sprache auch in anderer
Rücksicht eigenthümlich und von der gemeinen verschieden seyn muß.
Durch den Rhythmus erklärt die Rede, daß sie ihren Zweck absolut in
sich selbst hat; es wäre widersinnig, wenn sie in dieser Erhebung sich
nach den gewöhnlichen Verstandeszwecken der Sprache bequemen, und
alle dazu dienenden Formen derselben nachahmen sollte. Sie strebt
vielmehr so viel möglich auch in ihren Theilen absolut zu seyn. (Keine
logische Unterordnung, Wegfallen der Verbindungspartikeln.) Ohnehin ist
alle Poesie in ihrem Ursprung für das Hören gedichtet, sie sey nun
lyrisch oder episch oder dramatisch. Die Begeisterung erscheint hier am
unmittelbarsten als Inspiration, die den davon Ergriffenen nicht an
äußere Zwecke denken läßt. Nur hörend auf die Stimme des Gottes

1 Die nun folgenden weiteren Ausführungen über das Sylbenmaß, den
Versbau, die Anwendung des rhythmischen Sylbenmaßes auf die neueren Spra-
chen, ferner über die neuen Sylbenmaße (den Reim etc.) wurden als nichts
Eigenthümliches enthaltend (und theilweise nur in Andeutungen bestehend) hier
übergangen, um so mehr, als der Verfasser im Verlauf derselben selbst erklärt
sich in seinen Angaben meist nach bekannten Schriftstellern (A. W. Schlegel,
Moriz) gerichtet zu haben. D. H.

— da alſo die Einheiten der Sprache ſchon organiſche Glieder, Sylben
ſind, und ſich die qualitative Beſtimmung nicht auf Höhe und Tiefe der
Töne beziehen kann, ſo bleibt nichts übrig, worin ſie beſtehen könnte,
als die Auszeichnung einer Sylbe durch eine Hebung der Stimme, wo-
durch eine Anzahl anderer Sylben mit ihr verbunden und dieſe Einheit
dem Gehör fühlbar gemacht wird, und dagegen — Fallenlaſſen der
anderen Sylben durch ein Sinken der Stimme. Dieß iſt aber, was
Accent heißt 1.


Ich gehe nun zu den einzelnen Dichtarten fort, indem ich
folgendes Allgemeine vorausſchicke.

Gedicht überhaupt iſt ein Ganzes, das ſeine Zeit und Schwung-
kraft in ſich ſelbſt hat, und dadurch von dem Ganzen der Sprache ab-
geſondert, vollkommen in ſich ſelbſt beſchloſſen iſt.

Eine unmittelbare Folge dieſes in-ſich-ſelbſt-Seyns der Rede
durch Rhythmus und Sylbenmaß iſt, daß die Sprache auch in anderer
Rückſicht eigenthümlich und von der gemeinen verſchieden ſeyn muß.
Durch den Rhythmus erklärt die Rede, daß ſie ihren Zweck abſolut in
ſich ſelbſt hat; es wäre widerſinnig, wenn ſie in dieſer Erhebung ſich
nach den gewöhnlichen Verſtandeszwecken der Sprache bequemen, und
alle dazu dienenden Formen derſelben nachahmen ſollte. Sie ſtrebt
vielmehr ſo viel möglich auch in ihren Theilen abſolut zu ſeyn. (Keine
logiſche Unterordnung, Wegfallen der Verbindungspartikeln.) Ohnehin iſt
alle Poeſie in ihrem Urſprung für das Hören gedichtet, ſie ſey nun
lyriſch oder epiſch oder dramatiſch. Die Begeiſterung erſcheint hier am
unmittelbarſten als Inſpiration, die den davon Ergriffenen nicht an
äußere Zwecke denken läßt. Nur hörend auf die Stimme des Gottes

1 Die nun folgenden weiteren Ausführungen über das Sylbenmaß, den
Versbau, die Anwendung des rhythmiſchen Sylbenmaßes auf die neueren Spra-
chen, ferner über die neuen Sylbenmaße (den Reim ꝛc.) wurden als nichts
Eigenthümliches enthaltend (und theilweiſe nur in Andeutungen beſtehend) hier
übergangen, um ſo mehr, als der Verfaſſer im Verlauf derſelben ſelbſt erklärt
ſich in ſeinen Angaben meiſt nach bekannten Schriftſtellern (A. W. Schlegel,
Moriz) gerichtet zu haben. D. H.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0313" n="637"/>
&#x2014; da al&#x017F;o die Einheiten der Sprache &#x017F;chon organi&#x017F;che Glieder, Sylben<lb/>
&#x017F;ind, und &#x017F;ich die qualitative Be&#x017F;timmung nicht auf Höhe und Tiefe der<lb/>
Töne beziehen kann, &#x017F;o bleibt nichts übrig, worin &#x017F;ie be&#x017F;tehen könnte,<lb/>
als die Auszeichnung einer Sylbe durch eine Hebung der Stimme, wo-<lb/>
durch eine Anzahl anderer Sylben mit ihr verbunden und die&#x017F;e Einheit<lb/>
dem Gehör fühlbar gemacht wird, und dagegen &#x2014; Fallenla&#x017F;&#x017F;en der<lb/>
anderen Sylben durch ein Sinken der Stimme. Dieß i&#x017F;t aber, was<lb/><hi rendition="#g">Accent</hi> heißt <note place="foot" n="1">Die nun folgenden weiteren Ausführungen über das Sylbenmaß, den<lb/>
Versbau, die Anwendung des rhythmi&#x017F;chen Sylbenmaßes auf die neueren Spra-<lb/>
chen, ferner über die neuen Sylbenmaße (den Reim &#xA75B;c.) wurden als nichts<lb/>
Eigenthümliches enthaltend (und theilwei&#x017F;e nur in Andeutungen be&#x017F;tehend) hier<lb/>
übergangen, um &#x017F;o mehr, als der Verfa&#x017F;&#x017F;er im Verlauf der&#x017F;elben &#x017F;elb&#x017F;t erklärt<lb/>
&#x017F;ich in &#x017F;einen Angaben mei&#x017F;t nach bekannten Schrift&#x017F;tellern (A. W. Schlegel,<lb/>
Moriz) gerichtet zu haben. D. H.</note>.</p><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
              <p>Ich gehe nun zu den <hi rendition="#g">einzelnen Dichtarten</hi> fort, indem ich<lb/>
folgendes Allgemeine voraus&#x017F;chicke.</p><lb/>
              <p><hi rendition="#g">Gedicht</hi> überhaupt i&#x017F;t ein <hi rendition="#g">Ganzes</hi>, das &#x017F;eine Zeit und Schwung-<lb/>
kraft in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t hat, und dadurch von dem Ganzen der Sprache ab-<lb/>
ge&#x017F;ondert, vollkommen in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t.</p><lb/>
              <p>Eine unmittelbare Folge die&#x017F;es in-&#x017F;ich-&#x017F;elb&#x017F;t-Seyns der Rede<lb/>
durch Rhythmus und Sylbenmaß i&#x017F;t, daß die Sprache auch in anderer<lb/>
Rück&#x017F;icht eigenthümlich und von der gemeinen ver&#x017F;chieden &#x017F;eyn muß.<lb/>
Durch den Rhythmus erklärt die Rede, daß &#x017F;ie ihren Zweck ab&#x017F;olut in<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t hat; es wäre wider&#x017F;innig, wenn &#x017F;ie in die&#x017F;er Erhebung &#x017F;ich<lb/>
nach den gewöhnlichen Ver&#x017F;tandeszwecken der Sprache bequemen, und<lb/>
alle dazu dienenden Formen der&#x017F;elben nachahmen &#x017F;ollte. Sie &#x017F;trebt<lb/>
vielmehr &#x017F;o viel möglich auch in ihren Theilen ab&#x017F;olut zu &#x017F;eyn. (Keine<lb/>
logi&#x017F;che Unterordnung, Wegfallen der Verbindungspartikeln.) Ohnehin i&#x017F;t<lb/>
alle Poe&#x017F;ie in ihrem Ur&#x017F;prung für das Hören gedichtet, &#x017F;ie &#x017F;ey nun<lb/>
lyri&#x017F;ch oder epi&#x017F;ch oder dramati&#x017F;ch. Die Begei&#x017F;terung er&#x017F;cheint hier am<lb/>
unmittelbar&#x017F;ten als In&#x017F;piration, die den davon Ergriffenen nicht an<lb/>
äußere Zwecke denken läßt. Nur hörend auf die Stimme des Gottes<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[637/0313] — da alſo die Einheiten der Sprache ſchon organiſche Glieder, Sylben ſind, und ſich die qualitative Beſtimmung nicht auf Höhe und Tiefe der Töne beziehen kann, ſo bleibt nichts übrig, worin ſie beſtehen könnte, als die Auszeichnung einer Sylbe durch eine Hebung der Stimme, wo- durch eine Anzahl anderer Sylben mit ihr verbunden und dieſe Einheit dem Gehör fühlbar gemacht wird, und dagegen — Fallenlaſſen der anderen Sylben durch ein Sinken der Stimme. Dieß iſt aber, was Accent heißt 1. Ich gehe nun zu den einzelnen Dichtarten fort, indem ich folgendes Allgemeine vorausſchicke. Gedicht überhaupt iſt ein Ganzes, das ſeine Zeit und Schwung- kraft in ſich ſelbſt hat, und dadurch von dem Ganzen der Sprache ab- geſondert, vollkommen in ſich ſelbſt beſchloſſen iſt. Eine unmittelbare Folge dieſes in-ſich-ſelbſt-Seyns der Rede durch Rhythmus und Sylbenmaß iſt, daß die Sprache auch in anderer Rückſicht eigenthümlich und von der gemeinen verſchieden ſeyn muß. Durch den Rhythmus erklärt die Rede, daß ſie ihren Zweck abſolut in ſich ſelbſt hat; es wäre widerſinnig, wenn ſie in dieſer Erhebung ſich nach den gewöhnlichen Verſtandeszwecken der Sprache bequemen, und alle dazu dienenden Formen derſelben nachahmen ſollte. Sie ſtrebt vielmehr ſo viel möglich auch in ihren Theilen abſolut zu ſeyn. (Keine logiſche Unterordnung, Wegfallen der Verbindungspartikeln.) Ohnehin iſt alle Poeſie in ihrem Urſprung für das Hören gedichtet, ſie ſey nun lyriſch oder epiſch oder dramatiſch. Die Begeiſterung erſcheint hier am unmittelbarſten als Inſpiration, die den davon Ergriffenen nicht an äußere Zwecke denken läßt. Nur hörend auf die Stimme des Gottes 1 Die nun folgenden weiteren Ausführungen über das Sylbenmaß, den Versbau, die Anwendung des rhythmiſchen Sylbenmaßes auf die neueren Spra- chen, ferner über die neuen Sylbenmaße (den Reim ꝛc.) wurden als nichts Eigenthümliches enthaltend (und theilweiſe nur in Andeutungen beſtehend) hier übergangen, um ſo mehr, als der Verfaſſer im Verlauf derſelben ſelbſt erklärt ſich in ſeinen Angaben meiſt nach bekannten Schriftſtellern (A. W. Schlegel, Moriz) gerichtet zu haben. D. H.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/313
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/313>, abgerufen am 22.11.2024.