kann. Die gemeine Wirklichkeit soll sich nur darstellen, um der Ironie und irgend einem Gegensatze dienstbar zu seyn.
Die Stellung der Begebenheiten ist ein anderes Geheimniß der Kunst. Sie müssen weise vertheilt seyn, und wenn auch gegen das Ende der Strom breiter wird, und die ganze Herrlichkeit der Concep- tion sich entfaltet, so sollen sich doch die Begebenheiten nirgend drücken, drängen und jagen. Die sogenannten Episoden müssen entweder dem Ganzen wesentlich angehören, organisch mit ihm gebildet seyn (Spe- rata), nicht bloß angeflickt, um dieses und jenes herbeizuführen, oder sie müssen ganz unabhängig als Novellen eingeschaltet seyn, wogegen sich nichts einwenden läßt.
Die Novelle, um dieß im Vorbeigehen zu bemerken, da wir uns auf alle diese Untergattungen nicht insbesondere einlassen können, ist der Roman nach der lyrischen Seite gebildet, gleichsam, was die Elegie in Bezug auf das Epos ist, eine Geschichte zur symbolischen Darstellung eines subjektiven Zustandes oder einer besonderen Wahr- heit, eines eigenthümlichen Gefühls.)
Um einen leichten Kern -- einen Mittelpunkt, der nichts ver- schlinge und alles gewaltsam in seine Strudel ziehe -- muß überhaupt im Roman alles fortschreitend geordnet seyn.
Es leuchtet aus diesen wenigen Zügen ein, was der Roman nicht seyn darf, im höchsten Sinn genommen: keine Musterkarte von Tugen- den und Lastern, kein psychologisches Präparat eines einzelnen mensch- lichen Gemüths, das wie in einem Kabinet aufbewahrt würde. Es soll uns an der Schwelle keine zerstörende Leidenschaft empfangen und durch alle ihre Stationen mit sich fortreißen, die den Leser zuletzt betäubt am Ende eines Wegs zurückläßt, den er um alles nicht noch einmal machen möchte. Auch soll der Roman ein Spiegel des allge- meinen Laufs menschlicher Dinge und des Lebens, also nicht bloß ein partielles Sittengemälde seyn, wo wir nie über den engen Horizont socialer Verhältnisse auch etwa der größesten Stadt oder eines Volks von beschränkten Sitten hinausgeführt werden, der endlosen schlechteren Stufen noch tiefer herabgehender Verhältnisse nicht zu gedenken.
kann. Die gemeine Wirklichkeit ſoll ſich nur darſtellen, um der Ironie und irgend einem Gegenſatze dienſtbar zu ſeyn.
Die Stellung der Begebenheiten iſt ein anderes Geheimniß der Kunſt. Sie müſſen weiſe vertheilt ſeyn, und wenn auch gegen das Ende der Strom breiter wird, und die ganze Herrlichkeit der Concep- tion ſich entfaltet, ſo ſollen ſich doch die Begebenheiten nirgend drücken, drängen und jagen. Die ſogenannten Epiſoden müſſen entweder dem Ganzen weſentlich angehören, organiſch mit ihm gebildet ſeyn (Spe- rata), nicht bloß angeflickt, um dieſes und jenes herbeizuführen, oder ſie müſſen ganz unabhängig als Novellen eingeſchaltet ſeyn, wogegen ſich nichts einwenden läßt.
Die Novelle, um dieß im Vorbeigehen zu bemerken, da wir uns auf alle dieſe Untergattungen nicht insbeſondere einlaſſen können, iſt der Roman nach der lyriſchen Seite gebildet, gleichſam, was die Elegie in Bezug auf das Epos iſt, eine Geſchichte zur ſymboliſchen Darſtellung eines ſubjektiven Zuſtandes oder einer beſonderen Wahr- heit, eines eigenthümlichen Gefühls.)
Um einen leichten Kern — einen Mittelpunkt, der nichts ver- ſchlinge und alles gewaltſam in ſeine Strudel ziehe — muß überhaupt im Roman alles fortſchreitend geordnet ſeyn.
Es leuchtet aus dieſen wenigen Zügen ein, was der Roman nicht ſeyn darf, im höchſten Sinn genommen: keine Muſterkarte von Tugen- den und Laſtern, kein pſychologiſches Präparat eines einzelnen menſch- lichen Gemüths, das wie in einem Kabinet aufbewahrt würde. Es ſoll uns an der Schwelle keine zerſtörende Leidenſchaft empfangen und durch alle ihre Stationen mit ſich fortreißen, die den Leſer zuletzt betäubt am Ende eines Wegs zurückläßt, den er um alles nicht noch einmal machen möchte. Auch ſoll der Roman ein Spiegel des allge- meinen Laufs menſchlicher Dinge und des Lebens, alſo nicht bloß ein partielles Sittengemälde ſeyn, wo wir nie über den engen Horizont ſocialer Verhältniſſe auch etwa der größeſten Stadt oder eines Volks von beſchränkten Sitten hinausgeführt werden, der endloſen ſchlechteren Stufen noch tiefer herabgehender Verhältniſſe nicht zu gedenken.
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Ironie und irgend einem Gegenſatze dienſtbar zu ſeyn.
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Kunſt. Sie müſſen weiſe vertheilt ſeyn, und wenn auch gegen das
Ende der Strom breiter wird, und die ganze Herrlichkeit der Concep-
tion ſich entfaltet, ſo ſollen ſich doch die Begebenheiten nirgend drücken,
drängen und jagen. Die ſogenannten Epiſoden müſſen entweder dem
Ganzen weſentlich angehören, organiſch mit ihm gebildet ſeyn (Spe-
rata), nicht bloß angeflickt, um dieſes und jenes herbeizuführen, oder
ſie müſſen ganz unabhängig als Novellen eingeſchaltet ſeyn, wogegen
ſich nichts einwenden läßt.
Die Novelle, um dieß im Vorbeigehen zu bemerken, da wir
uns auf alle dieſe Untergattungen nicht insbeſondere einlaſſen können,
iſt der Roman nach der lyriſchen Seite gebildet, gleichſam, was die
Elegie in Bezug auf das Epos iſt, eine Geſchichte zur ſymboliſchen
Darſtellung eines ſubjektiven Zuſtandes oder einer beſonderen Wahr-
heit, eines eigenthümlichen Gefühls.)
Um einen leichten Kern — einen Mittelpunkt, der nichts ver-
ſchlinge und alles gewaltſam in ſeine Strudel ziehe — muß überhaupt
im Roman alles fortſchreitend geordnet ſeyn.
Es leuchtet aus dieſen wenigen Zügen ein, was der Roman nicht
ſeyn darf, im höchſten Sinn genommen: keine Muſterkarte von Tugen-
den und Laſtern, kein pſychologiſches Präparat eines einzelnen menſch-
lichen Gemüths, das wie in einem Kabinet aufbewahrt würde. Es
ſoll uns an der Schwelle keine zerſtörende Leidenſchaft empfangen und
durch alle ihre Stationen mit ſich fortreißen, die den Leſer zuletzt
betäubt am Ende eines Wegs zurückläßt, den er um alles nicht noch
einmal machen möchte. Auch ſoll der Roman ein Spiegel des allge-
meinen Laufs menſchlicher Dinge und des Lebens, alſo nicht bloß ein
partielles Sittengemälde ſeyn, wo wir nie über den engen Horizont
ſocialer Verhältniſſe auch etwa der größeſten Stadt oder eines Volks
von beſchränkten Sitten hinausgeführt werden, der endloſen ſchlechteren
Stufen noch tiefer herabgehender Verhältniſſe nicht zu gedenken.
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 678. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/354>, abgerufen am 21.11.2024.
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