Neueren öfter zu diesem Fall recurrirt haben, große Verbrechen vorzu- stellen, ohne das Edle der Sitten dadurch aufzuheben, und deßwegen die Nothwendigkeit des Verbrechens in die Gewalt eines unbezwinglichen Charakters zu legen, wie Shakespeare sehr oft gethan hat. Da die griechische Tragödie so ganz sittlich und auf die höchste Sittlich- keit eigentlich gegründet ist, so kann in ihr auch über die eigentlich sittliche Stimmung, wenigstens in der letzten Instanz, keine Frage mehr seyn.
Die Totalität der Darstellung fordert, daß auch in den Sitten der Tragödie Abstufungen stattfinden, und besonders Sophokles ver- stand mit den wenigsten Personen nicht nur überhaupt die größte Wir- kung, sondern in dieser Begrenzung auch eine geschlossene Totalität der Sitten hervorzubringen.
In dem Gebrauch dessen, was Aristoteles das thaumaston, das Außerordentliche nennt, unterscheidet das Drama sich sehr wesentlich von dem epischen Gedicht. Das epische Gedicht stellt einen glücklichen Zustand dar, eine ungetheilte Welt, wo Götter und Menschen eins sind. Hier ist, wie wir schon sagten, die Dazwischenkunft der Götter nicht wunderbar, weil sie zu dieser Welt selbst gehören. Das Drama ruht schon mehr oder weniger auf einer getheilten Welt, indem es Nothwendigkeit und Freiheit sich entgegensetzt. Hier würde die Erschei- nung der Götter, wofern sie auf dieselbe Weise wie im Epos stattfände, den Charakter des Wunderbaren annehmen. Da nämlich im Drama kein Zufall, und alles entweder äußerlich oder innerlich nothwendig seyn soll, so könnten die Götter nur wegen einer Nothwendigkeit, die in ihnen selbst läge, also nur insofern sie selbst mithandelnde oder wenig- stens in die Handlung ursprünglich verwickelte Personen sind, in ihr erscheinen, keineswegs aber um den handelnden Personen, vornehmlich aber der Hauptperson entweder zu Hülfe zu kommen, oder feindlich zu begegnen (wie in der Ilias). Denn der Held der Tragödie soll und muß den Kampf für sich allein ausfechten; nur durch die sittliche Größe seiner Seele soll er ihn bestehen, und die äußere Heilung und Hülfe, welche Götter ihm gewähren können, genügt nicht einmal seinem
Neueren öfter zu dieſem Fall recurrirt haben, große Verbrechen vorzu- ſtellen, ohne das Edle der Sitten dadurch aufzuheben, und deßwegen die Nothwendigkeit des Verbrechens in die Gewalt eines unbezwinglichen Charakters zu legen, wie Shakeſpeare ſehr oft gethan hat. Da die griechiſche Tragödie ſo ganz ſittlich und auf die höchſte Sittlich- keit eigentlich gegründet iſt, ſo kann in ihr auch über die eigentlich ſittliche Stimmung, wenigſtens in der letzten Inſtanz, keine Frage mehr ſeyn.
Die Totalität der Darſtellung fordert, daß auch in den Sitten der Tragödie Abſtufungen ſtattfinden, und beſonders Sophokles ver- ſtand mit den wenigſten Perſonen nicht nur überhaupt die größte Wir- kung, ſondern in dieſer Begrenzung auch eine geſchloſſene Totalität der Sitten hervorzubringen.
In dem Gebrauch deſſen, was Ariſtoteles das ϑαυμαστόν, das Außerordentliche nennt, unterſcheidet das Drama ſich ſehr weſentlich von dem epiſchen Gedicht. Das epiſche Gedicht ſtellt einen glücklichen Zuſtand dar, eine ungetheilte Welt, wo Götter und Menſchen eins ſind. Hier iſt, wie wir ſchon ſagten, die Dazwiſchenkunft der Götter nicht wunderbar, weil ſie zu dieſer Welt ſelbſt gehören. Das Drama ruht ſchon mehr oder weniger auf einer getheilten Welt, indem es Nothwendigkeit und Freiheit ſich entgegenſetzt. Hier würde die Erſchei- nung der Götter, wofern ſie auf dieſelbe Weiſe wie im Epos ſtattfände, den Charakter des Wunderbaren annehmen. Da nämlich im Drama kein Zufall, und alles entweder äußerlich oder innerlich nothwendig ſeyn ſoll, ſo könnten die Götter nur wegen einer Nothwendigkeit, die in ihnen ſelbſt läge, alſo nur inſofern ſie ſelbſt mithandelnde oder wenig- ſtens in die Handlung urſprünglich verwickelte Perſonen ſind, in ihr erſcheinen, keineswegs aber um den handelnden Perſonen, vornehmlich aber der Hauptperſon entweder zu Hülfe zu kommen, oder feindlich zu begegnen (wie in der Ilias). Denn der Held der Tragödie ſoll und muß den Kampf für ſich allein ausfechten; nur durch die ſittliche Größe ſeiner Seele ſoll er ihn beſtehen, und die äußere Heilung und Hülfe, welche Götter ihm gewähren können, genügt nicht einmal ſeinem
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Neueren öfter zu dieſem Fall recurrirt haben, große Verbrechen vorzu-
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Nothwendigkeit des Verbrechens in die Gewalt eines unbezwinglichen
Charakters zu legen, wie Shakeſpeare ſehr oft gethan hat. Da die
griechiſche Tragödie ſo ganz ſittlich und auf die höchſte Sittlich-
keit eigentlich gegründet iſt, ſo kann in ihr auch über die eigentlich
ſittliche Stimmung, wenigſtens in der letzten Inſtanz, keine Frage
mehr ſeyn.
Die Totalität der Darſtellung fordert, daß auch in den Sitten
der Tragödie Abſtufungen ſtattfinden, und beſonders Sophokles ver-
ſtand mit den wenigſten Perſonen nicht nur überhaupt die größte Wir-
kung, ſondern in dieſer Begrenzung auch eine geſchloſſene Totalität
der Sitten hervorzubringen.
In dem Gebrauch deſſen, was Ariſtoteles das ϑαυμαστόν,
das Außerordentliche nennt, unterſcheidet das Drama ſich ſehr weſentlich
von dem epiſchen Gedicht. Das epiſche Gedicht ſtellt einen glücklichen
Zuſtand dar, eine ungetheilte Welt, wo Götter und Menſchen eins
ſind. Hier iſt, wie wir ſchon ſagten, die Dazwiſchenkunft der Götter
nicht wunderbar, weil ſie zu dieſer Welt ſelbſt gehören. Das Drama
ruht ſchon mehr oder weniger auf einer getheilten Welt, indem es
Nothwendigkeit und Freiheit ſich entgegenſetzt. Hier würde die Erſchei-
nung der Götter, wofern ſie auf dieſelbe Weiſe wie im Epos ſtattfände,
den Charakter des Wunderbaren annehmen. Da nämlich im Drama
kein Zufall, und alles entweder äußerlich oder innerlich nothwendig
ſeyn ſoll, ſo könnten die Götter nur wegen einer Nothwendigkeit, die
in ihnen ſelbſt läge, alſo nur inſofern ſie ſelbſt mithandelnde oder wenig-
ſtens in die Handlung urſprünglich verwickelte Perſonen ſind, in ihr
erſcheinen, keineswegs aber um den handelnden Perſonen, vornehmlich
aber der Hauptperſon entweder zu Hülfe zu kommen, oder feindlich zu
begegnen (wie in der Ilias). Denn der Held der Tragödie ſoll und
muß den Kampf für ſich allein ausfechten; nur durch die ſittliche Größe
ſeiner Seele ſoll er ihn beſtehen, und die äußere Heilung und Hülfe,
welche Götter ihm gewähren können, genügt nicht einmal ſeinem
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 702. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/378>, abgerufen am 21.11.2024.
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