äußert sich als Trotz, als Empörung, und eben dadurch siegt hier die Freiheit über die Nothwendigkeit, daß ihn im Gefühl seines persön- lichen Leidens doch nur die allgemeine Empörung gegen die uner- trägliche Herrschaft des Jupiter bewegt. Prometheus ist das Urbild des größten Menschencharakters, und dadurch auch das wahre Urbild der Tragödie. Die sittliche Reinheit und Erhabenheit in den Eumeniden des Aeschylos wurde schon vorhin hervorgehoben. Aber in allen seinen Stücken ließe sich jenes Grundgesetz der Tragödie, daß das Verbrechen und die Schuld mittel- oder unmittelbares Werk der Nothwendigkeit sey, nachweisen. Die hohe Sittlichkeit, die absolute Reinheit der Sophokleischen Werke ist die Bewunderung aller Zeitalter gewesen; sie spricht sich ganz in den Worten des Chors bei Oedipus 1 aus: "O möge mir das Loos gelingen, fromme Heiligkeit zu bewahren in Worten und allen Werken, wofür vorgesetzt sind die erhaben gestellten Gesetze, aus dem himmlischen Aether geboren, deren einziger Vater Olympos, und die nicht die sterbliche Natur der Menschen geboren hat, noch die Vergessenheit je begraben wird. Ein großer Gott vielmehr ist in ihnen, der vor Alter nicht welkt."
Was beiden, dem Sophokles und Aeschylos gemein ist, ist ferner, daß die Handlung nie bloß äußerlich, sondern innerlich und äußerlich zugleich geschlossen ist. Ihre Wirkung auf die Seele ist, sie von Leiden- schaften zu reinigen, anstatt sie zu erregen, und vielmehr sie in sich zu vollenden und ganz zu machen, als nach außen zu reißen und zu theilen.
Viel anders ist es hiemit in den Euripideischen Tragödien. Die hohe sittliche Stimmung ist vorbei; andre Motive treten an die Stelle. Es ist ihm nicht mehr so sehr um die erhabene Rührung, welche Sophokles be- wirkt, als um materielle und mehr mit Leiden vergesellschaftete Rührung zu thun. Er hat daher, wo er diesen Zweck verfolgt, nicht selten die rührendsten Bilder und Vorstellungen, die aber, weil es im Kern der Sache an der sittlichen und poetischen Reinheit fehlt, doch über das Ganze nicht bestechen können. Zu seinen Zwecken, die sehr oft oder fast immer außer den Grenzen der hohen und ächten Kunst liegen, reichten
1 Tyrannos, V. 864--871.
äußert ſich als Trotz, als Empörung, und eben dadurch ſiegt hier die Freiheit über die Nothwendigkeit, daß ihn im Gefühl ſeines perſön- lichen Leidens doch nur die allgemeine Empörung gegen die uner- trägliche Herrſchaft des Jupiter bewegt. Prometheus iſt das Urbild des größten Menſchencharakters, und dadurch auch das wahre Urbild der Tragödie. Die ſittliche Reinheit und Erhabenheit in den Eumeniden des Aeſchylos wurde ſchon vorhin hervorgehoben. Aber in allen ſeinen Stücken ließe ſich jenes Grundgeſetz der Tragödie, daß das Verbrechen und die Schuld mittel- oder unmittelbares Werk der Nothwendigkeit ſey, nachweiſen. Die hohe Sittlichkeit, die abſolute Reinheit der Sophokleiſchen Werke iſt die Bewunderung aller Zeitalter geweſen; ſie ſpricht ſich ganz in den Worten des Chors bei Oedipus 1 aus: „O möge mir das Loos gelingen, fromme Heiligkeit zu bewahren in Worten und allen Werken, wofür vorgeſetzt ſind die erhaben geſtellten Geſetze, aus dem himmliſchen Aether geboren, deren einziger Vater Olympos, und die nicht die ſterbliche Natur der Menſchen geboren hat, noch die Vergeſſenheit je begraben wird. Ein großer Gott vielmehr iſt in ihnen, der vor Alter nicht welkt.“
Was beiden, dem Sophokles und Aeſchylos gemein iſt, iſt ferner, daß die Handlung nie bloß äußerlich, ſondern innerlich und äußerlich zugleich geſchloſſen iſt. Ihre Wirkung auf die Seele iſt, ſie von Leiden- ſchaften zu reinigen, anſtatt ſie zu erregen, und vielmehr ſie in ſich zu vollenden und ganz zu machen, als nach außen zu reißen und zu theilen.
Viel anders iſt es hiemit in den Euripideiſchen Tragödien. Die hohe ſittliche Stimmung iſt vorbei; andre Motive treten an die Stelle. Es iſt ihm nicht mehr ſo ſehr um die erhabene Rührung, welche Sophokles be- wirkt, als um materielle und mehr mit Leiden vergeſellſchaftete Rührung zu thun. Er hat daher, wo er dieſen Zweck verfolgt, nicht ſelten die rührendſten Bilder und Vorſtellungen, die aber, weil es im Kern der Sache an der ſittlichen und poetiſchen Reinheit fehlt, doch über das Ganze nicht beſtechen können. Zu ſeinen Zwecken, die ſehr oft oder faſt immer außer den Grenzen der hohen und ächten Kunſt liegen, reichten
1 Tyrannos, V. 864—871.
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äußert ſich als Trotz, als Empörung, und eben dadurch ſiegt hier die
Freiheit über die Nothwendigkeit, daß ihn im Gefühl ſeines perſön-
lichen Leidens doch nur die allgemeine Empörung gegen die uner-
trägliche Herrſchaft des Jupiter bewegt. Prometheus iſt das Urbild des
größten Menſchencharakters, und dadurch auch das wahre Urbild der
Tragödie. Die ſittliche Reinheit und Erhabenheit in den Eumeniden
des Aeſchylos wurde ſchon vorhin hervorgehoben. Aber in allen ſeinen
Stücken ließe ſich jenes Grundgeſetz der Tragödie, daß das Verbrechen
und die Schuld mittel- oder unmittelbares Werk der Nothwendigkeit ſey,
nachweiſen. Die hohe Sittlichkeit, die abſolute Reinheit der Sophokleiſchen
Werke iſt die Bewunderung aller Zeitalter geweſen; ſie ſpricht ſich ganz
in den Worten des Chors bei Oedipus 1 aus: „O möge mir das Loos
gelingen, fromme Heiligkeit zu bewahren in Worten und allen Werken,
wofür vorgeſetzt ſind die erhaben geſtellten Geſetze, aus dem himmliſchen
Aether geboren, deren einziger Vater Olympos, und die nicht die ſterbliche
Natur der Menſchen geboren hat, noch die Vergeſſenheit je begraben
wird. Ein großer Gott vielmehr iſt in ihnen, der vor Alter nicht welkt.“
Was beiden, dem Sophokles und Aeſchylos gemein iſt, iſt ferner,
daß die Handlung nie bloß äußerlich, ſondern innerlich und äußerlich
zugleich geſchloſſen iſt. Ihre Wirkung auf die Seele iſt, ſie von Leiden-
ſchaften zu reinigen, anſtatt ſie zu erregen, und vielmehr ſie in ſich zu
vollenden und ganz zu machen, als nach außen zu reißen und zu theilen.
Viel anders iſt es hiemit in den Euripideiſchen Tragödien. Die hohe
ſittliche Stimmung iſt vorbei; andre Motive treten an die Stelle. Es iſt
ihm nicht mehr ſo ſehr um die erhabene Rührung, welche Sophokles be-
wirkt, als um materielle und mehr mit Leiden vergeſellſchaftete Rührung
zu thun. Er hat daher, wo er dieſen Zweck verfolgt, nicht ſelten die
rührendſten Bilder und Vorſtellungen, die aber, weil es im Kern der
Sache an der ſittlichen und poetiſchen Reinheit fehlt, doch über das
Ganze nicht beſtechen können. Zu ſeinen Zwecken, die ſehr oft oder faſt
immer außer den Grenzen der hohen und ächten Kunſt liegen, reichten
1 Tyrannos, V. 864—871.
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 709. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/385>, abgerufen am 21.11.2024.
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