wärtigen Zeit richtig, scharf und in allen Be¬ ziehungen aufzufassen. Viele derselben sind von der Art, daß ihr innerster Geist nur durch ho¬ mogenes Genie, durch wirkliches Nacherfinden gefaßt werden kann. Jemand, der bloß über¬ liefert, wird also in vielen Fällen in manchen Wissenschaften durchaus falsch überliefern. Wo ist denn diejenige historische Darstellung der Philosophie der alten Zeit oder nur eines einzelnen Philosophen der alten oder selbst der neueren Welt, die man als eine gelungene, wahre, ihren Gegenstand erreichende Darstel¬ lung, mit Sicherheit bezeichnen könnte? -- Aber überhaupt, wer in seiner Wissenschaft nur wie in einem fremden Eigenthume lebt, wer sie nicht persönlich besitzt, sich ein sicheres und lebendiges Organ für sie erworben hat, sie nicht in jedem Augenblick neu aus sich zu erzeugen an¬ fangen könnte, ist ein Unwürdiger, der schon in dem Versuch, die Gedanken der Vorwelt oder Gegenwart bloß historisch zu überliefern, über seine Gränze geht und etwas übernimmt, das er nicht leisten kann. Ohne Zweifel rechnet
waͤrtigen Zeit richtig, ſcharf und in allen Be¬ ziehungen aufzufaſſen. Viele derſelben ſind von der Art, daß ihr innerſter Geiſt nur durch ho¬ mogenes Genie, durch wirkliches Nacherfinden gefaßt werden kann. Jemand, der bloß uͤber¬ liefert, wird alſo in vielen Faͤllen in manchen Wiſſenſchaften durchaus falſch uͤberliefern. Wo iſt denn diejenige hiſtoriſche Darſtellung der Philoſophie der alten Zeit oder nur eines einzelnen Philoſophen der alten oder ſelbſt der neueren Welt, die man als eine gelungene, wahre, ihren Gegenſtand erreichende Darſtel¬ lung, mit Sicherheit bezeichnen koͤnnte? — Aber uͤberhaupt, wer in ſeiner Wiſſenſchaft nur wie in einem fremden Eigenthume lebt, wer ſie nicht perſoͤnlich beſitzt, ſich ein ſicheres und lebendiges Organ fuͤr ſie erworben hat, ſie nicht in jedem Augenblick neu aus ſich zu erzeugen an¬ fangen koͤnnte, iſt ein Unwuͤrdiger, der ſchon in dem Verſuch, die Gedanken der Vorwelt oder Gegenwart bloß hiſtoriſch zu uͤberliefern, uͤber ſeine Graͤnze geht und etwas uͤbernimmt, das er nicht leiſten kann. Ohne Zweifel rechnet
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waͤrtigen Zeit richtig, ſcharf und in allen Be¬
ziehungen aufzufaſſen. Viele derſelben ſind von
der Art, daß ihr innerſter Geiſt nur durch ho¬
mogenes Genie, durch wirkliches Nacherfinden
gefaßt werden kann. Jemand, der bloß uͤber¬
liefert, wird alſo in vielen Faͤllen in manchen
Wiſſenſchaften durchaus falſch uͤberliefern.
Wo iſt denn diejenige hiſtoriſche Darſtellung
der Philoſophie der alten Zeit oder nur eines
einzelnen Philoſophen der alten oder ſelbſt der
neueren Welt, die man als eine gelungene,
wahre, ihren Gegenſtand erreichende Darſtel¬
lung, mit Sicherheit bezeichnen koͤnnte? —
Aber uͤberhaupt, wer in ſeiner Wiſſenſchaft nur
wie in einem fremden Eigenthume lebt, wer
ſie nicht perſoͤnlich beſitzt, ſich ein ſicheres und
lebendiges Organ fuͤr ſie erworben hat, ſie nicht
in jedem Augenblick neu aus ſich zu erzeugen an¬
fangen koͤnnte, iſt ein Unwuͤrdiger, der ſchon
in dem Verſuch, die Gedanken der Vorwelt oder
Gegenwart bloß hiſtoriſch zu uͤberliefern, uͤber
ſeine Graͤnze geht und etwas uͤbernimmt, das
er nicht leiſten kann. Ohne Zweifel rechnet
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Vorlesungen über die Methode des academischen Studium. Tübingen, 1803, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_methode_1803/56>, abgerufen am 18.10.2024.
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