Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

psc_196.001
die Rede war. Doch legt er diese verwandten Principien psc_196.002
besser und klarer als ein Andrer dar.

psc_196.003

Zunächst das "Princip der Widerspruchlosigkeit" (Fechner psc_196.004
S. 80) folgt schon aus Einheit und Zusammenstimmung. "Wahrheit" psc_196.005
ist von Fechner (S. 84) oberflächlich behandelt: Engel psc_196.006
sollen uns gefallen, weil Flügel symbolisch Boten Gottes psc_196.007
andeuten. Nein! das ist mythologisch. Wahrheit, nicht bloß psc_196.008
in sich, sondern bei Vergleichung des nachgebildeten Gegenstandes, psc_196.009
ist allerdings zuweilen, d. h. in gewissen Zeiten und psc_196.010
vor einem gewissen Publicum, Bedingung des Gefallens. psc_196.011
"Daz ist war" sagt der Erzähler des Mittelalters bei den unglaublichsten psc_196.012
Dingen; er rechnet also auf ein wundergläubiges psc_196.013
Publicum. (Vgl. unter 5.)

psc_196.014

Dann das "Princip der Klarheit" (S. 84). Jch würde psc_196.015
sagen: Klarheit und Verständlichkeit, welchem Princip ich psc_196.016
einen großen Platz einräume. Unklarheit, Unverständlichkeit psc_196.017
verdirbt den Zusammenhang, ist eine Trübung für Einheit psc_196.018
und Folge, die Aufmerksamkeit sinkt. Höchstens kann als psc_196.019
ein Übergang etwas schwerer Verständliches gestattet sein, psc_196.020
wenn die Trübung nachher beseitigt wird.

psc_196.021

Auf die Aufmerksamkeit bezieht sich auch Alles, was psc_196.022
die Leichtigkeit der Auffassung befördert, entschiedene Eindrücke, psc_196.023
starke Eindrücke giebt. Dies "Princip der Leichtigkeit" psc_196.024
ist mit dem der Klarheit und Verständlichkeit nahe verwandt. psc_196.025
Hierüber sind Erfahrungen vorhanden, so an der Sprache: psc_196.026
erfahrungsmäßig werden Bewegungen in der Sprache leichter psc_196.027
aufgefaßt als Ruhe; ein Nacheinander leichter als ein Nebeneinander; psc_196.028
Verba besser als Substantiva; Situationen, die

psc_196.001
die Rede war. Doch legt er diese verwandten Principien psc_196.002
besser und klarer als ein Andrer dar.

psc_196.003

  Zunächst das „Princip der Widerspruchlosigkeit“ (Fechner psc_196.004
S. 80) folgt schon aus Einheit und Zusammenstimmung. „Wahrheit“ psc_196.005
ist von Fechner (S. 84) oberflächlich behandelt: Engel psc_196.006
sollen uns gefallen, weil Flügel symbolisch Boten Gottes psc_196.007
andeuten. Nein! das ist mythologisch. Wahrheit, nicht bloß psc_196.008
in sich, sondern bei Vergleichung des nachgebildeten Gegenstandes, psc_196.009
ist allerdings zuweilen, d. h. in gewissen Zeiten und psc_196.010
vor einem gewissen Publicum, Bedingung des Gefallens. psc_196.011
Daz ist wâr“ sagt der Erzähler des Mittelalters bei den unglaublichsten psc_196.012
Dingen; er rechnet also auf ein wundergläubiges psc_196.013
Publicum. (Vgl. unter 5.)

psc_196.014

  Dann das „Princip der Klarheit“ (S. 84). Jch würde psc_196.015
sagen: Klarheit und Verständlichkeit, welchem Princip ich psc_196.016
einen großen Platz einräume. Unklarheit, Unverständlichkeit psc_196.017
verdirbt den Zusammenhang, ist eine Trübung für Einheit psc_196.018
und Folge, die Aufmerksamkeit sinkt. Höchstens kann als psc_196.019
ein Übergang etwas schwerer Verständliches gestattet sein, psc_196.020
wenn die Trübung nachher beseitigt wird.

psc_196.021

  Auf die Aufmerksamkeit bezieht sich auch Alles, was psc_196.022
die Leichtigkeit der Auffassung befördert, entschiedene Eindrücke, psc_196.023
starke Eindrücke giebt. Dies „Princip der Leichtigkeit“ psc_196.024
ist mit dem der Klarheit und Verständlichkeit nahe verwandt. psc_196.025
Hierüber sind Erfahrungen vorhanden, so an der Sprache: psc_196.026
erfahrungsmäßig werden Bewegungen in der Sprache leichter psc_196.027
aufgefaßt als Ruhe; ein Nacheinander leichter als ein Nebeneinander; psc_196.028
Verba besser als Substantiva; Situationen, die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0212" n="196"/><lb n="psc_196.001"/>
die Rede war. Doch legt er diese verwandten Principien <lb n="psc_196.002"/>
besser und klarer als ein Andrer dar.</p>
            <lb n="psc_196.003"/>
            <p>  Zunächst das &#x201E;Princip der Widerspruchlosigkeit&#x201C; (Fechner <lb n="psc_196.004"/>
S. 80) folgt schon aus Einheit und Zusammenstimmung. &#x201E;Wahrheit&#x201C; <lb n="psc_196.005"/>
ist von Fechner (S. 84) oberflächlich behandelt: Engel <lb n="psc_196.006"/>
sollen uns gefallen, weil Flügel symbolisch Boten Gottes <lb n="psc_196.007"/>
andeuten. Nein! das ist mythologisch. Wahrheit, nicht bloß <lb n="psc_196.008"/>
in sich, sondern bei Vergleichung des nachgebildeten Gegenstandes, <lb n="psc_196.009"/>
ist allerdings zuweilen, d. h. in gewissen Zeiten und <lb n="psc_196.010"/>
vor einem gewissen Publicum, Bedingung des Gefallens. <lb n="psc_196.011"/>
&#x201E;<hi rendition="#aq">Daz ist wâr</hi>&#x201C; sagt der Erzähler des Mittelalters bei den unglaublichsten <lb n="psc_196.012"/>
Dingen; er rechnet also auf ein wundergläubiges <lb n="psc_196.013"/>
Publicum. (Vgl. unter 5.)</p>
            <lb n="psc_196.014"/>
            <p>  Dann das &#x201E;Princip der Klarheit&#x201C; (S. 84). Jch würde <lb n="psc_196.015"/>
sagen: Klarheit und Verständlichkeit, welchem Princip ich <lb n="psc_196.016"/>
einen großen Platz einräume. Unklarheit, Unverständlichkeit <lb n="psc_196.017"/>
verdirbt den Zusammenhang, ist eine Trübung für Einheit <lb n="psc_196.018"/>
und Folge, die Aufmerksamkeit sinkt. Höchstens kann als <lb n="psc_196.019"/>
ein Übergang etwas schwerer Verständliches gestattet sein, <lb n="psc_196.020"/>
wenn die Trübung nachher beseitigt wird.</p>
            <lb n="psc_196.021"/>
            <p>  Auf die Aufmerksamkeit bezieht sich auch Alles, was <lb n="psc_196.022"/>
die Leichtigkeit der Auffassung befördert, entschiedene Eindrücke, <lb n="psc_196.023"/>
starke Eindrücke giebt. Dies &#x201E;Princip der Leichtigkeit&#x201C; <lb n="psc_196.024"/>
ist mit dem der Klarheit und Verständlichkeit nahe verwandt. <lb n="psc_196.025"/>
Hierüber sind Erfahrungen vorhanden, so an der Sprache: <lb n="psc_196.026"/>
erfahrungsmäßig werden Bewegungen in der Sprache leichter <lb n="psc_196.027"/>
aufgefaßt als Ruhe; ein Nacheinander leichter als ein Nebeneinander; <lb n="psc_196.028"/>
Verba besser als Substantiva; Situationen, die
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[196/0212] psc_196.001 die Rede war. Doch legt er diese verwandten Principien psc_196.002 besser und klarer als ein Andrer dar. psc_196.003   Zunächst das „Princip der Widerspruchlosigkeit“ (Fechner psc_196.004 S. 80) folgt schon aus Einheit und Zusammenstimmung. „Wahrheit“ psc_196.005 ist von Fechner (S. 84) oberflächlich behandelt: Engel psc_196.006 sollen uns gefallen, weil Flügel symbolisch Boten Gottes psc_196.007 andeuten. Nein! das ist mythologisch. Wahrheit, nicht bloß psc_196.008 in sich, sondern bei Vergleichung des nachgebildeten Gegenstandes, psc_196.009 ist allerdings zuweilen, d. h. in gewissen Zeiten und psc_196.010 vor einem gewissen Publicum, Bedingung des Gefallens. psc_196.011 „Daz ist wâr“ sagt der Erzähler des Mittelalters bei den unglaublichsten psc_196.012 Dingen; er rechnet also auf ein wundergläubiges psc_196.013 Publicum. (Vgl. unter 5.) psc_196.014   Dann das „Princip der Klarheit“ (S. 84). Jch würde psc_196.015 sagen: Klarheit und Verständlichkeit, welchem Princip ich psc_196.016 einen großen Platz einräume. Unklarheit, Unverständlichkeit psc_196.017 verdirbt den Zusammenhang, ist eine Trübung für Einheit psc_196.018 und Folge, die Aufmerksamkeit sinkt. Höchstens kann als psc_196.019 ein Übergang etwas schwerer Verständliches gestattet sein, psc_196.020 wenn die Trübung nachher beseitigt wird. psc_196.021   Auf die Aufmerksamkeit bezieht sich auch Alles, was psc_196.022 die Leichtigkeit der Auffassung befördert, entschiedene Eindrücke, psc_196.023 starke Eindrücke giebt. Dies „Princip der Leichtigkeit“ psc_196.024 ist mit dem der Klarheit und Verständlichkeit nahe verwandt. psc_196.025 Hierüber sind Erfahrungen vorhanden, so an der Sprache: psc_196.026 erfahrungsmäßig werden Bewegungen in der Sprache leichter psc_196.027 aufgefaßt als Ruhe; ein Nacheinander leichter als ein Nebeneinander; psc_196.028 Verba besser als Substantiva; Situationen, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/212
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/212>, abgerufen am 25.11.2024.