Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

psc_201.001
Aber immerhin hat das Princip auch hier seine weitere Geltung: psc_201.002
es sind auch hier directe und associirte Vorstellungen zu psc_201.003
scheiden. Das Wort hat zunächst eine Fläche, mit der es auf psc_201.004
uns wirkt; es hat aber auch eine Tiefe. Zuerst wirkt der psc_201.005
nackte Begriff, jene Vorstellungen also, die mit dem Wort psc_201.006
selbst associirt sind; dann aber auch Vorstellungen, welche psc_201.007
sofort und weiterhin daran hängen: Etymologie, Gelegenheit psc_201.008
und Zusammenhang früher vernommenen Gebrauchs und psc_201.009
solche Vorstellungen, welche in weiterem Abstand mitklingen. psc_201.010
Der Klang des Worts hat gleichsam seine Obertöne.

psc_201.011

Die Kunst des Dichters besteht daher häufig darin, ein psc_201.012
Wort so in uns erklingen zu lassen, daß eine ganze Welt in psc_201.013
dem schlichten Wort lebendig wird: so versteht Klopstock das psc_201.014
Wort wirken zu lassen. Hiervon aber muß im Kapitel der psc_201.015
äußern Form die Rede sein.

psc_201.016

Jndessen es handelt sich hier nicht bloß um das Wort. psc_201.017
Gerade hier ist die Lehre vom Publicum zu beachten: die psc_201.018
besondere Resonanz, welche bestimmte Vorstellungen (durch psc_201.019
das Wort geweckt) in der Seele des Menschen haben können psc_201.020
durch besondere Zusammensetzung des Publicums, durch den psc_201.021
Ort, den Moment -- mit einem Wort die begleitenden Umstände. psc_201.022
Es tritt eben eine Anwendung des Princips der psc_201.023
ästhetischen Hilfen ein.

psc_201.024

Ein Kirchenlied klingt anders als Chorgesang in der psc_201.025
Kirche, denn im Concertsaal oder vollends bei einsamer Lectüre. psc_201.026
Uberhaupt gilt hier das Hilfsprincip: auch das Zusammenwirken psc_201.027
von Text und Musik macht einen ganz anderen Eindruck psc_201.028
als der bloße Text. Ein Kriegslied, welches Todbereitschaft

psc_201.001
Aber immerhin hat das Princip auch hier seine weitere Geltung: psc_201.002
es sind auch hier directe und associirte Vorstellungen zu psc_201.003
scheiden. Das Wort hat zunächst eine Fläche, mit der es auf psc_201.004
uns wirkt; es hat aber auch eine Tiefe. Zuerst wirkt der psc_201.005
nackte Begriff, jene Vorstellungen also, die mit dem Wort psc_201.006
selbst associirt sind; dann aber auch Vorstellungen, welche psc_201.007
sofort und weiterhin daran hängen: Etymologie, Gelegenheit psc_201.008
und Zusammenhang früher vernommenen Gebrauchs und psc_201.009
solche Vorstellungen, welche in weiterem Abstand mitklingen. psc_201.010
Der Klang des Worts hat gleichsam seine Obertöne.

psc_201.011

  Die Kunst des Dichters besteht daher häufig darin, ein psc_201.012
Wort so in uns erklingen zu lassen, daß eine ganze Welt in psc_201.013
dem schlichten Wort lebendig wird: so versteht Klopstock das psc_201.014
Wort wirken zu lassen. Hiervon aber muß im Kapitel der psc_201.015
äußern Form die Rede sein.

psc_201.016

  Jndessen es handelt sich hier nicht bloß um das Wort. psc_201.017
Gerade hier ist die Lehre vom Publicum zu beachten: die psc_201.018
besondere Resonanz, welche bestimmte Vorstellungen (durch psc_201.019
das Wort geweckt) in der Seele des Menschen haben können psc_201.020
durch besondere Zusammensetzung des Publicums, durch den psc_201.021
Ort, den Moment — mit einem Wort die begleitenden Umstände. psc_201.022
Es tritt eben eine Anwendung des Princips der psc_201.023
ästhetischen Hilfen ein.

psc_201.024

  Ein Kirchenlied klingt anders als Chorgesang in der psc_201.025
Kirche, denn im Concertsaal oder vollends bei einsamer Lectüre. psc_201.026
Uberhaupt gilt hier das Hilfsprincip: auch das Zusammenwirken psc_201.027
von Text und Musik macht einen ganz anderen Eindruck psc_201.028
als der bloße Text. Ein Kriegslied, welches Todbereitschaft

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0217" n="201"/><lb n="psc_201.001"/>
Aber immerhin hat das Princip auch hier seine weitere Geltung: <lb n="psc_201.002"/>
es sind auch hier directe und associirte Vorstellungen zu <lb n="psc_201.003"/>
scheiden. Das Wort hat zunächst eine Fläche, mit der es auf <lb n="psc_201.004"/>
uns wirkt; es hat aber auch eine Tiefe. Zuerst wirkt der <lb n="psc_201.005"/>
nackte Begriff, jene Vorstellungen also, die mit dem Wort <lb n="psc_201.006"/>
selbst associirt sind; dann aber auch Vorstellungen, welche <lb n="psc_201.007"/>
sofort und weiterhin daran hängen: Etymologie, Gelegenheit <lb n="psc_201.008"/>
und Zusammenhang früher vernommenen Gebrauchs und <lb n="psc_201.009"/>
solche Vorstellungen, welche in weiterem Abstand mitklingen. <lb n="psc_201.010"/>
Der Klang des Worts hat gleichsam seine Obertöne.</p>
            <lb n="psc_201.011"/>
            <p>  Die Kunst des Dichters besteht daher häufig darin, ein <lb n="psc_201.012"/>
Wort so in uns erklingen zu lassen, daß eine ganze Welt in <lb n="psc_201.013"/>
dem schlichten Wort lebendig wird: so versteht Klopstock das <lb n="psc_201.014"/>
Wort wirken zu lassen. Hiervon aber muß im Kapitel der <lb n="psc_201.015"/>
äußern Form die Rede sein.</p>
            <lb n="psc_201.016"/>
            <p>  Jndessen es handelt sich hier nicht bloß um das Wort. <lb n="psc_201.017"/>
Gerade hier ist die Lehre vom <hi rendition="#g">Publicum</hi> zu beachten: die <lb n="psc_201.018"/>
besondere Resonanz, welche bestimmte Vorstellungen (durch <lb n="psc_201.019"/>
das Wort geweckt) in der Seele des Menschen haben können <lb n="psc_201.020"/>
durch besondere Zusammensetzung des Publicums, durch den <lb n="psc_201.021"/>
Ort, den Moment &#x2014; mit einem Wort die begleitenden Umstände. <lb n="psc_201.022"/>
Es tritt eben eine Anwendung des Princips der <lb n="psc_201.023"/>
ästhetischen Hilfen ein.</p>
            <lb n="psc_201.024"/>
            <p>  Ein Kirchenlied klingt anders als Chorgesang in der <lb n="psc_201.025"/>
Kirche, denn im Concertsaal oder vollends bei einsamer Lectüre. <lb n="psc_201.026"/>
Uberhaupt gilt hier das Hilfsprincip: auch das Zusammenwirken <lb n="psc_201.027"/>
von Text und Musik macht einen ganz anderen Eindruck <lb n="psc_201.028"/>
als der bloße Text. Ein Kriegslied, welches Todbereitschaft
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[201/0217] psc_201.001 Aber immerhin hat das Princip auch hier seine weitere Geltung: psc_201.002 es sind auch hier directe und associirte Vorstellungen zu psc_201.003 scheiden. Das Wort hat zunächst eine Fläche, mit der es auf psc_201.004 uns wirkt; es hat aber auch eine Tiefe. Zuerst wirkt der psc_201.005 nackte Begriff, jene Vorstellungen also, die mit dem Wort psc_201.006 selbst associirt sind; dann aber auch Vorstellungen, welche psc_201.007 sofort und weiterhin daran hängen: Etymologie, Gelegenheit psc_201.008 und Zusammenhang früher vernommenen Gebrauchs und psc_201.009 solche Vorstellungen, welche in weiterem Abstand mitklingen. psc_201.010 Der Klang des Worts hat gleichsam seine Obertöne. psc_201.011   Die Kunst des Dichters besteht daher häufig darin, ein psc_201.012 Wort so in uns erklingen zu lassen, daß eine ganze Welt in psc_201.013 dem schlichten Wort lebendig wird: so versteht Klopstock das psc_201.014 Wort wirken zu lassen. Hiervon aber muß im Kapitel der psc_201.015 äußern Form die Rede sein. psc_201.016   Jndessen es handelt sich hier nicht bloß um das Wort. psc_201.017 Gerade hier ist die Lehre vom Publicum zu beachten: die psc_201.018 besondere Resonanz, welche bestimmte Vorstellungen (durch psc_201.019 das Wort geweckt) in der Seele des Menschen haben können psc_201.020 durch besondere Zusammensetzung des Publicums, durch den psc_201.021 Ort, den Moment — mit einem Wort die begleitenden Umstände. psc_201.022 Es tritt eben eine Anwendung des Princips der psc_201.023 ästhetischen Hilfen ein. psc_201.024   Ein Kirchenlied klingt anders als Chorgesang in der psc_201.025 Kirche, denn im Concertsaal oder vollends bei einsamer Lectüre. psc_201.026 Uberhaupt gilt hier das Hilfsprincip: auch das Zusammenwirken psc_201.027 von Text und Musik macht einen ganz anderen Eindruck psc_201.028 als der bloße Text. Ein Kriegslied, welches Todbereitschaft

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/217
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/217>, abgerufen am 26.11.2024.