Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

psc_259.001
immer ungeduldig, wenn ich Dramen lese und erst eine Beschreibung psc_259.002
des Schauplatzes studiren soll -- ich denke wohl psc_259.003
auch ohne das folgen zu können.

psc_259.004

Der Dichter wetteifert in solchen Beschreibungen mit psc_259.005
dem Maler und kann ihn nicht erreichen, während er, wenn psc_259.006
er nicht Körperliches, sondern Seelisches ausdrückt, ein eigenstes psc_259.007
Gebiet hat, wo er dem Maler weit voraus ist. Und nicht psc_259.008
bloß das Seelische, sondern ebenso die Bewegung, und beides oft psc_259.009
verbunden: eine körperliche Bewegung und ihr seelisches Motiv.

psc_259.010

Lessing hat nur Ein malerisches Beiwort zulassen wollen psc_259.011
und sich auf Homers Praxis berufen. Nicht ganz mit psc_259.012
Recht (vgl. Marty S. 145); z. B. Jlias 12, 294 f.: "den Schild psc_259.013
von gerundeter Wölbung, schön gehämmert aus Erz, den psc_259.014
prangenden, welchen der Wehrschmied hämmerte, wohl inwendig psc_259.015
gefügt aus häufiger Stierhaut, Stäbe von lauterem psc_259.016
Gold, langreichende, rings um den Rand hin." .. Aber psc_259.017
man muß das Einzelne erwägen: die Form des Schildes ist psc_259.018
dem Publicum bekannt, also durchs Wort eine körperliche psc_259.019
Vorstellung sofort gegeben; ungefähr auch die Zusammensetzung psc_259.020
der Arbeit aus Erz, Stierhaut und Goldstäben -- der psc_259.021
Dichter explicirt nur eine bekannte Vorstellung, indem er Züge psc_259.022
wie "schön prangend", "häufig", "langreichend" beibringt, psc_259.023
nicht ohne Vorstellungen der Thätigkeit ("hämmern", "fügen"). psc_259.024
Hier ist die Mühe des Eintragens auf eine Fläche die psc_259.025
denkbar geringste. Unserem Gedächtniß wird nichts zugemuthet.

psc_259.026

So auch bei Beschreibung eines Gesichts; die allgemeine psc_259.027
Configuration ist bekannt: große Nase, großer Mund, buschige psc_259.028
Augenbrauen. Auffallende Eigenschaften stellen wir uns

psc_259.001
immer ungeduldig, wenn ich Dramen lese und erst eine Beschreibung psc_259.002
des Schauplatzes studiren soll — ich denke wohl psc_259.003
auch ohne das folgen zu können.

psc_259.004

  Der Dichter wetteifert in solchen Beschreibungen mit psc_259.005
dem Maler und kann ihn nicht erreichen, während er, wenn psc_259.006
er nicht Körperliches, sondern Seelisches ausdrückt, ein eigenstes psc_259.007
Gebiet hat, wo er dem Maler weit voraus ist. Und nicht psc_259.008
bloß das Seelische, sondern ebenso die Bewegung, und beides oft psc_259.009
verbunden: eine körperliche Bewegung und ihr seelisches Motiv.

psc_259.010

  Lessing hat nur Ein malerisches Beiwort zulassen wollen psc_259.011
und sich auf Homers Praxis berufen. Nicht ganz mit psc_259.012
Recht (vgl. Marty S. 145); z. B. Jlias 12, 294 f.: „den Schild psc_259.013
von gerundeter Wölbung, schön gehämmert aus Erz, den psc_259.014
prangenden, welchen der Wehrschmied hämmerte, wohl inwendig psc_259.015
gefügt aus häufiger Stierhaut, Stäbe von lauterem psc_259.016
Gold, langreichende, rings um den Rand hin.“ .. Aber psc_259.017
man muß das Einzelne erwägen: die Form des Schildes ist psc_259.018
dem Publicum bekannt, also durchs Wort eine körperliche psc_259.019
Vorstellung sofort gegeben; ungefähr auch die Zusammensetzung psc_259.020
der Arbeit aus Erz, Stierhaut und Goldstäben — der psc_259.021
Dichter explicirt nur eine bekannte Vorstellung, indem er Züge psc_259.022
wie „schön prangend“, „häufig“, „langreichend“ beibringt, psc_259.023
nicht ohne Vorstellungen der Thätigkeit („hämmern“, „fügen“). psc_259.024
Hier ist die Mühe des Eintragens auf eine Fläche die psc_259.025
denkbar geringste. Unserem Gedächtniß wird nichts zugemuthet.

psc_259.026

  So auch bei Beschreibung eines Gesichts; die allgemeine psc_259.027
Configuration ist bekannt: große Nase, großer Mund, buschige psc_259.028
Augenbrauen. Auffallende Eigenschaften stellen wir uns

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0275" n="259"/><lb n="psc_259.001"/>
immer ungeduldig, wenn ich Dramen lese und erst eine Beschreibung <lb n="psc_259.002"/>
des Schauplatzes studiren soll &#x2014; ich denke wohl <lb n="psc_259.003"/>
auch ohne das folgen zu können.</p>
          <lb n="psc_259.004"/>
          <p>  Der Dichter wetteifert in solchen Beschreibungen mit <lb n="psc_259.005"/>
dem Maler und kann ihn nicht erreichen, während er, wenn <lb n="psc_259.006"/>
er nicht Körperliches, sondern Seelisches ausdrückt, ein eigenstes <lb n="psc_259.007"/>
Gebiet hat, wo er dem Maler weit voraus ist. Und nicht <lb n="psc_259.008"/>
bloß das Seelische, sondern ebenso die Bewegung, und beides oft <lb n="psc_259.009"/>
verbunden: eine körperliche Bewegung und ihr seelisches Motiv.</p>
          <lb n="psc_259.010"/>
          <p>  Lessing hat nur Ein malerisches Beiwort zulassen wollen <lb n="psc_259.011"/>
und sich auf Homers Praxis berufen. Nicht ganz mit <lb n="psc_259.012"/>
Recht (vgl. Marty S. 145); z. B. Jlias 12, 294 f.: &#x201E;den Schild <lb n="psc_259.013"/>
von gerundeter Wölbung, schön gehämmert aus Erz, den <lb n="psc_259.014"/>
prangenden, welchen der Wehrschmied hämmerte, wohl inwendig <lb n="psc_259.015"/>
gefügt aus häufiger Stierhaut, Stäbe von lauterem <lb n="psc_259.016"/>
Gold, langreichende, rings um den Rand hin.&#x201C; .. Aber <lb n="psc_259.017"/>
man muß das Einzelne erwägen: die Form des Schildes ist <lb n="psc_259.018"/>
dem Publicum bekannt, also durchs Wort eine körperliche <lb n="psc_259.019"/>
Vorstellung sofort gegeben; ungefähr auch die Zusammensetzung <lb n="psc_259.020"/>
der Arbeit aus Erz, Stierhaut und Goldstäben &#x2014; der <lb n="psc_259.021"/>
Dichter explicirt nur eine bekannte Vorstellung, indem er Züge <lb n="psc_259.022"/>
wie &#x201E;schön prangend&#x201C;, &#x201E;häufig&#x201C;, &#x201E;langreichend&#x201C; beibringt, <lb n="psc_259.023"/>
nicht ohne Vorstellungen der Thätigkeit (&#x201E;hämmern&#x201C;, &#x201E;fügen&#x201C;). <lb n="psc_259.024"/>
Hier ist die Mühe des Eintragens auf eine Fläche die <lb n="psc_259.025"/>
denkbar geringste. Unserem Gedächtniß wird nichts zugemuthet.</p>
          <lb n="psc_259.026"/>
          <p>  So auch bei Beschreibung eines Gesichts; die allgemeine <lb n="psc_259.027"/>
Configuration ist bekannt: große Nase, großer Mund, buschige <lb n="psc_259.028"/>
Augenbrauen. Auffallende Eigenschaften stellen wir uns
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[259/0275] psc_259.001 immer ungeduldig, wenn ich Dramen lese und erst eine Beschreibung psc_259.002 des Schauplatzes studiren soll — ich denke wohl psc_259.003 auch ohne das folgen zu können. psc_259.004   Der Dichter wetteifert in solchen Beschreibungen mit psc_259.005 dem Maler und kann ihn nicht erreichen, während er, wenn psc_259.006 er nicht Körperliches, sondern Seelisches ausdrückt, ein eigenstes psc_259.007 Gebiet hat, wo er dem Maler weit voraus ist. Und nicht psc_259.008 bloß das Seelische, sondern ebenso die Bewegung, und beides oft psc_259.009 verbunden: eine körperliche Bewegung und ihr seelisches Motiv. psc_259.010   Lessing hat nur Ein malerisches Beiwort zulassen wollen psc_259.011 und sich auf Homers Praxis berufen. Nicht ganz mit psc_259.012 Recht (vgl. Marty S. 145); z. B. Jlias 12, 294 f.: „den Schild psc_259.013 von gerundeter Wölbung, schön gehämmert aus Erz, den psc_259.014 prangenden, welchen der Wehrschmied hämmerte, wohl inwendig psc_259.015 gefügt aus häufiger Stierhaut, Stäbe von lauterem psc_259.016 Gold, langreichende, rings um den Rand hin.“ .. Aber psc_259.017 man muß das Einzelne erwägen: die Form des Schildes ist psc_259.018 dem Publicum bekannt, also durchs Wort eine körperliche psc_259.019 Vorstellung sofort gegeben; ungefähr auch die Zusammensetzung psc_259.020 der Arbeit aus Erz, Stierhaut und Goldstäben — der psc_259.021 Dichter explicirt nur eine bekannte Vorstellung, indem er Züge psc_259.022 wie „schön prangend“, „häufig“, „langreichend“ beibringt, psc_259.023 nicht ohne Vorstellungen der Thätigkeit („hämmern“, „fügen“). psc_259.024 Hier ist die Mühe des Eintragens auf eine Fläche die psc_259.025 denkbar geringste. Unserem Gedächtniß wird nichts zugemuthet. psc_259.026   So auch bei Beschreibung eines Gesichts; die allgemeine psc_259.027 Configuration ist bekannt: große Nase, großer Mund, buschige psc_259.028 Augenbrauen. Auffallende Eigenschaften stellen wir uns

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/275
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/275>, abgerufen am 22.11.2024.