Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94.

Bild:
<< vorherige Seite
Fünfzehenter Brief.

Immer näher komm ich dem Ziel, dem ich Sie auf einem wenig ermunternden Pfade entgegen führe. Lassen Sie es sich gefallen, mir noch einige Schritte weiter zu folgen, so wird ein desto freyerer Gesichtskreis sich aufthun, und eine muntere Aussicht die Mühe des Wegs vielleicht belohnen.

Der Gegenstand des Sachtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben, in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale Seyn, und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt. Der Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heissen können; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen, und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.

Durch diese Erklärung, wenn es eine wäre, wird die Schönheit weder auf das ganze Gebiet des Lebendigen ausgedehnt, noch bloß in dieses Gebiet eingeschlossen. Ein Marmorblock, obgleich er leblos ist und bleibt, kann darum nichts desto weniger lebende Gestalt durch den Ar-

Fünfzehenter Brief.

Immer näher komm ich dem Ziel, dem ich Sie auf einem wenig ermunternden Pfade entgegen führe. Lassen Sie es sich gefallen, mir noch einige Schritte weiter zu folgen, so wird ein desto freyerer Gesichtskreis sich aufthun, und eine muntere Aussicht die Mühe des Wegs vielleicht belohnen.

Der Gegenstand des Sachtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben, in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale Seyn, und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt. Der Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heissen können; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen, und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.

Durch diese Erklärung, wenn es eine wäre, wird die Schönheit weder auf das ganze Gebiet des Lebendigen ausgedehnt, noch bloß in dieses Gebiet eingeschlossen. Ein Marmorblock, obgleich er leblos ist und bleibt, kann darum nichts desto weniger lebende Gestalt durch den Ar-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0032" n="82"/>
          <head> <hi rendition="#g">Fünfzehenter Brief.</hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">I</hi>mmer näher komm ich dem Ziel, dem ich Sie auf einem wenig ermunternden Pfade entgegen führe. Lassen Sie es sich gefallen, mir noch einige Schritte weiter zu folgen, so wird ein desto freyerer Gesichtskreis sich aufthun, und eine muntere Aussicht die Mühe des Wegs vielleicht belohnen.</p>
          <p>Der Gegenstand des Sachtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben, in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale Seyn, und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt. Der Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heissen können; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen, und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.</p>
          <p>Durch diese Erklärung, wenn es eine wäre, wird die Schönheit weder auf das ganze Gebiet des Lebendigen ausgedehnt, noch bloß in dieses Gebiet eingeschlossen. Ein Marmorblock, obgleich er leblos ist und bleibt, kann darum nichts desto weniger lebende Gestalt durch den Ar-
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[82/0032] Fünfzehenter Brief. Immer näher komm ich dem Ziel, dem ich Sie auf einem wenig ermunternden Pfade entgegen führe. Lassen Sie es sich gefallen, mir noch einige Schritte weiter zu folgen, so wird ein desto freyerer Gesichtskreis sich aufthun, und eine muntere Aussicht die Mühe des Wegs vielleicht belohnen. Der Gegenstand des Sachtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben, in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale Seyn, und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt. Der Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heissen können; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen, und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient. Durch diese Erklärung, wenn es eine wäre, wird die Schönheit weder auf das ganze Gebiet des Lebendigen ausgedehnt, noch bloß in dieses Gebiet eingeschlossen. Ein Marmorblock, obgleich er leblos ist und bleibt, kann darum nichts desto weniger lebende Gestalt durch den Ar-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Friedrich Schiller Archiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-11-25T14:19:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-11-25T14:19:32Z)
Universitätsbibliothek Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-11-25T14:19:32Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet
  • i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert
  • I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Silbentrennung: aufgelöst
  • u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert
  • Zeilenumbrüche markiert: nein



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/32
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94, hier S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/32>, abgerufen am 03.12.2024.