Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94.

Bild:
<< vorherige Seite

leitet, sie oberflächlich zu behandeln! Wie mancher schwache Verstand wird bloß deßwegen mit der bürgerlichen Einrichtung uneins, weil es der Phantasie der Poeten beliebte, eine Welt abzustellen, worinn alles ganz anders erfolgt, wo keine Konvenienz die Meinungen bindet, keine Kunst die Natur unterdrückt. Welche gefährliche Dialektik haben die Leidenschaften nicht erlernt, seitdem sie in den Gemählden der Dichter mit den glänzendsten Farben prangen und im Kampf mit Gesetzen und Pflichten gewöhnlich das Feld behalten? Was hat wohl die Gesellschaft dabey gewonnen, daß jetzt die Schönheit dem Umgang Gesetze giebt, den sonst die Wahrheit regierte, und daß der äussere Eindruck die Achtung entscheidet, die nur an den Verdienst gefesselt seyn sollte? Es ist wahr, man sieht jetzt alle Tugenden blühen, die einen gefälligen Effekt in der Erscheinung machen, und einen Werth in der Gesellschaft verleyhen, dafür aber auch alle Ausschweifungen herrschen, und alle Laster im Schwange gehn, die sich mit einer schönen Hülle vertragen." In der That muß es Nachdenken erregen, daß man beynahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet, und auch nicht ein einziges Beyspiel aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine grosse Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freyheit, und bürgerlicher Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre.

Solange Athen und Sparta ihre Unabhängigkeit behaupteten, und Achtung für die Gesetze ihrer Verfassung zur Grundlage diente, war der Geschmack noch un-

leitet, sie oberflächlich zu behandeln! Wie mancher schwache Verstand wird bloß deßwegen mit der bürgerlichen Einrichtung uneins, weil es der Phantasie der Poeten beliebte, eine Welt abzustellen, worinn alles ganz anders erfolgt, wo keine Konvenienz die Meinungen bindet, keine Kunst die Natur unterdrückt. Welche gefährliche Dialektik haben die Leidenschaften nicht erlernt, seitdem sie in den Gemählden der Dichter mit den glänzendsten Farben prangen und im Kampf mit Gesetzen und Pflichten gewöhnlich das Feld behalten? Was hat wohl die Gesellschaft dabey gewonnen, daß jetzt die Schönheit dem Umgang Gesetze giebt, den sonst die Wahrheit regierte, und daß der äussere Eindruck die Achtung entscheidet, die nur an den Verdienst gefesselt seyn sollte? Es ist wahr, man sieht jetzt alle Tugenden blühen, die einen gefälligen Effekt in der Erscheinung machen, und einen Werth in der Gesellschaft verleyhen, dafür aber auch alle Ausschweifungen herrschen, und alle Laster im Schwange gehn, die sich mit einer schönen Hülle vertragen.“ In der That muß es Nachdenken erregen, daß man beynahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet, und auch nicht ein einziges Beyspiel aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine grosse Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freyheit, und bürgerlicher Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre.

Solange Athen und Sparta ihre Unabhängigkeit behaupteten, und Achtung für die Gesetze ihrer Verfassung zur Grundlage diente, war der Geschmack noch un-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0004" n="54"/>
leitet, sie oberflächlich zu behandeln! Wie mancher schwache Verstand wird bloß deßwegen mit der bürgerlichen Einrichtung uneins, weil es der Phantasie der Poeten beliebte, eine Welt abzustellen, worinn alles ganz anders erfolgt, wo keine Konvenienz die Meinungen bindet, keine Kunst die Natur unterdrückt. Welche gefährliche Dialektik haben die Leidenschaften nicht erlernt, seitdem sie in den Gemählden der Dichter mit den glänzendsten Farben prangen und im Kampf mit Gesetzen und Pflichten gewöhnlich das Feld behalten? Was hat wohl die Gesellschaft dabey gewonnen, daß jetzt die Schönheit dem Umgang Gesetze giebt, den sonst die Wahrheit regierte, und daß der äussere Eindruck die Achtung entscheidet, die nur an den Verdienst gefesselt seyn sollte? Es ist wahr, man sieht jetzt alle Tugenden blühen, die einen gefälligen Effekt in der Erscheinung machen, und einen Werth in der Gesellschaft verleyhen, dafür aber auch alle Ausschweifungen herrschen, und alle Laster im Schwange gehn, die sich mit einer schönen Hülle vertragen.&#x201C; In der That muß es Nachdenken erregen, daß man beynahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet, und auch nicht ein einziges Beyspiel aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine grosse Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freyheit, und bürgerlicher Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre.</p>
          <p>Solange <hi rendition="#g">Athen</hi> und <hi rendition="#g">Sparta</hi> ihre Unabhängigkeit behaupteten, und Achtung für die Gesetze ihrer Verfassung zur Grundlage diente, war der Geschmack noch un-
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[54/0004] leitet, sie oberflächlich zu behandeln! Wie mancher schwache Verstand wird bloß deßwegen mit der bürgerlichen Einrichtung uneins, weil es der Phantasie der Poeten beliebte, eine Welt abzustellen, worinn alles ganz anders erfolgt, wo keine Konvenienz die Meinungen bindet, keine Kunst die Natur unterdrückt. Welche gefährliche Dialektik haben die Leidenschaften nicht erlernt, seitdem sie in den Gemählden der Dichter mit den glänzendsten Farben prangen und im Kampf mit Gesetzen und Pflichten gewöhnlich das Feld behalten? Was hat wohl die Gesellschaft dabey gewonnen, daß jetzt die Schönheit dem Umgang Gesetze giebt, den sonst die Wahrheit regierte, und daß der äussere Eindruck die Achtung entscheidet, die nur an den Verdienst gefesselt seyn sollte? Es ist wahr, man sieht jetzt alle Tugenden blühen, die einen gefälligen Effekt in der Erscheinung machen, und einen Werth in der Gesellschaft verleyhen, dafür aber auch alle Ausschweifungen herrschen, und alle Laster im Schwange gehn, die sich mit einer schönen Hülle vertragen.“ In der That muß es Nachdenken erregen, daß man beynahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet, und auch nicht ein einziges Beyspiel aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine grosse Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freyheit, und bürgerlicher Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre. Solange Athen und Sparta ihre Unabhängigkeit behaupteten, und Achtung für die Gesetze ihrer Verfassung zur Grundlage diente, war der Geschmack noch un-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Friedrich Schiller Archiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-11-25T14:19:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-11-25T14:19:32Z)
Universitätsbibliothek Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-11-25T14:19:32Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet
  • i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert
  • I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Silbentrennung: aufgelöst
  • u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert
  • Zeilenumbrüche markiert: nein



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/4
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94, hier S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/4>, abgerufen am 03.12.2024.