Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94.

Bild:
<< vorherige Seite
Sechzehnter Brief.

Aus der Wechselwirkung zwey entgegengesetzter Triebe, und auf der Verbindung zwey entgegengesetzter Principien haben wir das Schöne hervorgehen sehen, dessen höchstes Ideal also in dem möglichstvollkommensten Bunde und Gleichgewicht der Realität und der Form wird zu suchen seyn. Dieses Gleichgewicht bleibt aber immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann. In der Wirklichkeit wird immer ein Übergewicht des Einen Elements über das andere übrig bleiben, und das höchste was die Erfahrung leistet, wird in einer Schwankung zwischen beyden Principien bestehen, wo bald die Realität, bald die Form überwiegend ist. Die Schönheit in der Idee ist also ewig nur eine untheilbare einzige, weil es nur ein einziges Gleichgewicht geben kann; die Schönheit in der Erfahrung hingegen wird ewig eine doppelte seyn, weil bey einer Schwankung das Gleichgewicht auf eine doppelte Art, nehmlich disseits und jenseits, kann übertreten werden.

Ich habe in einem der vorhergehenden Briefe bemerkt, auch läßt es sich aus dem Zusammenhange des bisherigen mit strenger Nothwendigkeit folgern, daß von dem Schönen zugleich eine auflösende und eine anspannende Wirkung zu erwarten sey: eine auflösende, um sowohl den Sachtrieb als den Formtrieb in ihren Grenzen zu halten: eine anspannende, um beyde in ihrer Kraft zu erhalten. Diese beyden Wirkungsarten der Schönheit

Sechzehnter Brief.

Aus der Wechselwirkung zwey entgegengesetzter Triebe, und auf der Verbindung zwey entgegengesetzter Principien haben wir das Schöne hervorgehen sehen, dessen höchstes Ideal also in dem möglichstvollkommensten Bunde und Gleichgewicht der Realität und der Form wird zu suchen seyn. Dieses Gleichgewicht bleibt aber immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann. In der Wirklichkeit wird immer ein Übergewicht des Einen Elements über das andere übrig bleiben, und das höchste was die Erfahrung leistet, wird in einer Schwankung zwischen beyden Principien bestehen, wo bald die Realität, bald die Form überwiegend ist. Die Schönheit in der Idee ist also ewig nur eine untheilbare einzige, weil es nur ein einziges Gleichgewicht geben kann; die Schönheit in der Erfahrung hingegen wird ewig eine doppelte seyn, weil bey einer Schwankung das Gleichgewicht auf eine doppelte Art, nehmlich disseits und jenseits, kann übertreten werden.

Ich habe in einem der vorhergehenden Briefe bemerkt, auch läßt es sich aus dem Zusammenhange des bisherigen mit strenger Nothwendigkeit folgern, daß von dem Schönen zugleich eine auflösende und eine anspannende Wirkung zu erwarten sey: eine auflösende, um sowohl den Sachtrieb als den Formtrieb in ihren Grenzen zu halten: eine anspannende, um beyde in ihrer Kraft zu erhalten. Diese beyden Wirkungsarten der Schönheit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0040" n="90"/>
          <head> <hi rendition="#g">Sechzehnter Brief.</hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">A</hi>us der Wechselwirkung zwey entgegengesetzter Triebe, und auf der Verbindung zwey entgegengesetzter Principien haben wir das Schöne hervorgehen sehen, dessen höchstes Ideal also in dem möglichstvollkommensten Bunde und Gleichgewicht der Realität und der Form wird zu suchen seyn. Dieses Gleichgewicht bleibt aber immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann. In der Wirklichkeit wird immer ein Übergewicht des Einen Elements über das andere übrig bleiben, und das höchste was die Erfahrung leistet, wird in einer Schwankung zwischen beyden Principien bestehen, wo bald die Realität, bald die Form überwiegend ist. Die Schönheit in der Idee ist also ewig nur eine untheilbare einzige, weil es nur ein einziges Gleichgewicht geben kann; die Schönheit in der Erfahrung hingegen wird ewig eine doppelte seyn, weil bey einer Schwankung das Gleichgewicht auf eine doppelte Art, nehmlich disseits und jenseits, kann übertreten werden.</p>
          <p>Ich habe in einem der vorhergehenden Briefe bemerkt, auch läßt es sich aus dem Zusammenhange des bisherigen mit strenger Nothwendigkeit folgern, daß von dem Schönen zugleich eine auflösende und eine anspannende Wirkung zu erwarten sey: eine auflösende, um sowohl den Sachtrieb als den Formtrieb in ihren Grenzen zu halten: eine anspannende, um beyde in ihrer Kraft zu erhalten. Diese beyden Wirkungsarten der Schönheit
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[90/0040] Sechzehnter Brief. Aus der Wechselwirkung zwey entgegengesetzter Triebe, und auf der Verbindung zwey entgegengesetzter Principien haben wir das Schöne hervorgehen sehen, dessen höchstes Ideal also in dem möglichstvollkommensten Bunde und Gleichgewicht der Realität und der Form wird zu suchen seyn. Dieses Gleichgewicht bleibt aber immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann. In der Wirklichkeit wird immer ein Übergewicht des Einen Elements über das andere übrig bleiben, und das höchste was die Erfahrung leistet, wird in einer Schwankung zwischen beyden Principien bestehen, wo bald die Realität, bald die Form überwiegend ist. Die Schönheit in der Idee ist also ewig nur eine untheilbare einzige, weil es nur ein einziges Gleichgewicht geben kann; die Schönheit in der Erfahrung hingegen wird ewig eine doppelte seyn, weil bey einer Schwankung das Gleichgewicht auf eine doppelte Art, nehmlich disseits und jenseits, kann übertreten werden. Ich habe in einem der vorhergehenden Briefe bemerkt, auch läßt es sich aus dem Zusammenhange des bisherigen mit strenger Nothwendigkeit folgern, daß von dem Schönen zugleich eine auflösende und eine anspannende Wirkung zu erwarten sey: eine auflösende, um sowohl den Sachtrieb als den Formtrieb in ihren Grenzen zu halten: eine anspannende, um beyde in ihrer Kraft zu erhalten. Diese beyden Wirkungsarten der Schönheit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Friedrich Schiller Archiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-11-25T14:19:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-11-25T14:19:32Z)
Universitätsbibliothek Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-11-25T14:19:32Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet
  • i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert
  • I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Silbentrennung: aufgelöst
  • u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert
  • Zeilenumbrüche markiert: nein



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/40
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94, hier S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/40>, abgerufen am 03.12.2024.