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Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124.

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Neunzehenter Brief.

Es lassen sich in dem Menschen überhaupt zwey verschiedene Zustände der passiven und aktiven Bestimmbarkeit, und eben so viele Zustände der passiven und aktiven Bestimmung unterscheiden. Die Erklärung dieses Satzes führt uns am kürzesten zum Ziel.

Der Zustand des menschlichen Geistes vor aller Bestimmung, die ihm durch Eindrücke der Sinne gegeben wird, ist eine Bestimmbarkeit ohne Grenzen. Das Endlose des Raumes und der Zeit ist seiner Einbildungskraft zu freyem Gebrauch hingegeben, und weil, der Voraussetzung nach, in diesem weiten Reiche des Möglichen nichts gesetzt, folglich auch noch nichts ausgeschlossen ist, so kann man diesen Zustand der Bestimmungslosigkeit eine leere Unendlichkeit nennen, welches mit einer unendlichen Leere keineswegs zu verwechseln ist.

Jetzt soll sein Sinn gerührt werden, und aus der unendlichen Menge möglicher Bestimmungen soll eine Einzelne Wirklichkeit erhalten. Eine Vorstellung soll in ihm entstehen. Was in dem vorhergegangenen Zustand der bloßen Bestimmbarkeit nichts, als ein leeres Vermögen war, das wird jetzt zu einer wirkenden Kraft, das bekommt einen Innhalt; zugleich aber erhält es, als wirkende Kraft, eine Grenze, da es, als bloßes Vermögen, unbegrenzt war. Realität ist also da, aber die Unendlichkeit ist verloren. Um eine Gestalt im Raum zu beschreiben, müssen wir den endlosen Raum begren-

Neunzehenter Brief.

Es lassen sich in dem Menschen überhaupt zwey verschiedene Zustände der passiven und aktiven Bestimmbarkeit, und eben so viele Zustände der passiven und aktiven Bestimmung unterscheiden. Die Erklärung dieses Satzes führt uns am kürzesten zum Ziel.

Der Zustand des menschlichen Geistes vor aller Bestimmung, die ihm durch Eindrücke der Sinne gegeben wird, ist eine Bestimmbarkeit ohne Grenzen. Das Endlose des Raumes und der Zeit ist seiner Einbildungskraft zu freyem Gebrauch hingegeben, und weil, der Voraussetzung nach, in diesem weiten Reiche des Möglichen nichts gesetzt, folglich auch noch nichts ausgeschlossen ist, so kann man diesen Zustand der Bestimmungslosigkeit eine leere Unendlichkeit nennen, welches mit einer unendlichen Leere keineswegs zu verwechseln ist.

Jetzt soll sein Sinn gerührt werden, und aus der unendlichen Menge möglicher Bestimmungen soll eine Einzelne Wirklichkeit erhalten. Eine Vorstellung soll in ihm entstehen. Was in dem vorhergegangenen Zustand der bloßen Bestimmbarkeit nichts, als ein leeres Vermögen war, das wird jetzt zu einer wirkenden Kraft, das bekommt einen Innhalt; zugleich aber erhält es, als wirkende Kraft, eine Grenze, da es, als bloßes Vermögen, unbegrenzt war. Realität ist also da, aber die Unendlichkeit ist verloren. Um eine Gestalt im Raum zu beschreiben, müssen wir den endlosen Raum begren-

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[54/0010] Neunzehenter Brief. Es lassen sich in dem Menschen überhaupt zwey verschiedene Zustände der passiven und aktiven Bestimmbarkeit, und eben so viele Zustände der passiven und aktiven Bestimmung unterscheiden. Die Erklärung dieses Satzes führt uns am kürzesten zum Ziel. Der Zustand des menschlichen Geistes vor aller Bestimmung, die ihm durch Eindrücke der Sinne gegeben wird, ist eine Bestimmbarkeit ohne Grenzen. Das Endlose des Raumes und der Zeit ist seiner Einbildungskraft zu freyem Gebrauch hingegeben, und weil, der Voraussetzung nach, in diesem weiten Reiche des Möglichen nichts gesetzt, folglich auch noch nichts ausgeschlossen ist, so kann man diesen Zustand der Bestimmungslosigkeit eine leere Unendlichkeit nennen, welches mit einer unendlichen Leere keineswegs zu verwechseln ist. Jetzt soll sein Sinn gerührt werden, und aus der unendlichen Menge möglicher Bestimmungen soll eine Einzelne Wirklichkeit erhalten. Eine Vorstellung soll in ihm entstehen. Was in dem vorhergegangenen Zustand der bloßen Bestimmbarkeit nichts, als ein leeres Vermögen war, das wird jetzt zu einer wirkenden Kraft, das bekommt einen Innhalt; zugleich aber erhält es, als wirkende Kraft, eine Grenze, da es, als bloßes Vermögen, unbegrenzt war. Realität ist also da, aber die Unendlichkeit ist verloren. Um eine Gestalt im Raum zu beschreiben, müssen wir den endlosen Raum begren-

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124, hier S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung03_1795/10>, abgerufen am 23.11.2024.