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Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124.

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Sechs und zwanzigster Brief.

Da die ästhetische Stimmung des Gemüths, wie ich in den vorhergehenden Briefen entwickelt habe, der Freyheit erst die Entstehung giebt, so ist leicht einzusehen, daß sie nicht aus derselben entspringen und folglich keinen moralischen Ursprung haben könne. Ein Geschenk der Natur muß sie seyn; die Gunst der Zufälle allein kann die Feßeln des physischen Standes lösen, und den Wilden zur Schönheit führen.

Der Keim der letztern wird sich gleich wenig entwickeln, wo eine karge Natur den Menschen jeder Erquickung beraubt, und wo eine verschwenderische ihn von jeder eigenen Anstrengung losspricht - wo die stumpfe Sinnlichkeit kein Bedürfniß fühlt, und wo die heftige Begier keine Sättigung findet. Nicht da, wo der Mensch sich troglodytisch in Höhlen birgt, ewig einzeln ist, und die Menschheit nie außer sich findet, auch nicht da, wo er nomadisch in großen Heermassen zieht, ewig nur Zahl ist, und die Menschheit nie in sich findet - da allein, wo er in eigener Hütte still mit sich selbst, und sobald er heraustritt, mit dem ganzen Geschlechte spricht, wird sich ihre liebliche Knospe entfalten. Da wo ein leichter Äther die Sinne jeder leisen Berührung eröfnet, und den üppigen Stoff eine energische Wärme beseelt - wo das Reich der blinden Masse schon in der leblosen Schöpfung gekürzt ist, und die siegende Form auch die niedrigsten Naturen veredelt - dort in den fröhlichen Verhältnissen, und in der gesegneten Zone,

Sechs und zwanzigster Brief.

Da die ästhetische Stimmung des Gemüths, wie ich in den vorhergehenden Briefen entwickelt habe, der Freyheit erst die Entstehung giebt, so ist leicht einzusehen, daß sie nicht aus derselben entspringen und folglich keinen moralischen Ursprung haben könne. Ein Geschenk der Natur muß sie seyn; die Gunst der Zufälle allein kann die Feßeln des physischen Standes lösen, und den Wilden zur Schönheit führen.

Der Keim der letztern wird sich gleich wenig entwickeln, wo eine karge Natur den Menschen jeder Erquickung beraubt, und wo eine verschwenderische ihn von jeder eigenen Anstrengung losspricht – wo die stumpfe Sinnlichkeit kein Bedürfniß fühlt, und wo die heftige Begier keine Sättigung findet. Nicht da, wo der Mensch sich troglodytisch in Höhlen birgt, ewig einzeln ist, und die Menschheit nie außer sich findet, auch nicht da, wo er nomadisch in großen Heermassen zieht, ewig nur Zahl ist, und die Menschheit nie in sich findet – da allein, wo er in eigener Hütte still mit sich selbst, und sobald er heraustritt, mit dem ganzen Geschlechte spricht, wird sich ihre liebliche Knospe entfalten. Da wo ein leichter Äther die Sinne jeder leisen Berührung eröfnet, und den üppigen Stoff eine energische Wärme beseelt – wo das Reich der blinden Masse schon in der leblosen Schöpfung gekürzt ist, und die siegende Form auch die niedrigsten Naturen veredelt – dort in den fröhlichen Verhältnissen, und in der gesegneten Zone,

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[102/0058] Sechs und zwanzigster Brief. Da die ästhetische Stimmung des Gemüths, wie ich in den vorhergehenden Briefen entwickelt habe, der Freyheit erst die Entstehung giebt, so ist leicht einzusehen, daß sie nicht aus derselben entspringen und folglich keinen moralischen Ursprung haben könne. Ein Geschenk der Natur muß sie seyn; die Gunst der Zufälle allein kann die Feßeln des physischen Standes lösen, und den Wilden zur Schönheit führen. Der Keim der letztern wird sich gleich wenig entwickeln, wo eine karge Natur den Menschen jeder Erquickung beraubt, und wo eine verschwenderische ihn von jeder eigenen Anstrengung losspricht – wo die stumpfe Sinnlichkeit kein Bedürfniß fühlt, und wo die heftige Begier keine Sättigung findet. Nicht da, wo der Mensch sich troglodytisch in Höhlen birgt, ewig einzeln ist, und die Menschheit nie außer sich findet, auch nicht da, wo er nomadisch in großen Heermassen zieht, ewig nur Zahl ist, und die Menschheit nie in sich findet – da allein, wo er in eigener Hütte still mit sich selbst, und sobald er heraustritt, mit dem ganzen Geschlechte spricht, wird sich ihre liebliche Knospe entfalten. Da wo ein leichter Äther die Sinne jeder leisen Berührung eröfnet, und den üppigen Stoff eine energische Wärme beseelt – wo das Reich der blinden Masse schon in der leblosen Schöpfung gekürzt ist, und die siegende Form auch die niedrigsten Naturen veredelt – dort in den fröhlichen Verhältnissen, und in der gesegneten Zone,

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124, hier S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung03_1795/58>, abgerufen am 24.11.2024.