Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

Bild:
<< vorherige Seite

werde; zweytens daß er (in weitester Bedeutung des Worts)
naiv sey, d. h. daß die Natur mit der Kunst im Kon-
traste stehe und sie beschäme. Sobald das letzte zu dem
ersten hinzukommt, und nicht eher, wird die Natur zum
Naiven.

Natur in dieser Betrachtungsart ist uns nichts an-
ders, als das freiwillige Daseyn, das Bestehen der Dinge
durch sich selbst, die Existenz nach eignen und unabänder-
lichen Gesetzen.

Diese Vorstellung ist schlechterdings nöthig, wenn
wir an dergleichen Erscheinungen Interesse nehmen sol-
len. Könnte man einer gemachten Blume den Schein
der Natur, mit der vollkommensten Täuschung geben,
könnte man die Nachahmung des Naiven in den Sitten
bis zur höchsten Illusion treiben, so würde die Entdeckung
daß es Nachahmung sey, das Gefühl, von dem die Rede
ist, gänzlich vernichten.* Daraus erhellet, daß diese

* Kant, meines Wissens der erste, der über dieses Phänomen
eigends zu reflektiren angefangen, erinnert, daß wenn wir
von einem Menschen den Schlag der Nachtigall bis zur höch-
sten Täuschung nachgeahmt fänden, und uns dem Eindruck
desselben mit ganzer Rührung überliessen, mit der Zerstö-
rung dieser Illusion alle unsere Lust verschwinden würde.
Man sehe das Kapitel vom intellektuellen Inter-
esse am Schönen
in der Critik der ästhetischen Urtheils-
kraft. Wer den Verfasser nur als einen großen Denker
bewundern gelernt hat, wird sich freuen, hier auf eine
Spur seines Herzens zu treffen, und sich durch diese Ent-

werde; zweytens daß er (in weiteſter Bedeutung des Worts)
naiv ſey, d. h. daß die Natur mit der Kunſt im Kon-
traſte ſtehe und ſie beſchaͤme. Sobald das letzte zu dem
erſten hinzukommt, und nicht eher, wird die Natur zum
Naiven.

Natur in dieſer Betrachtungsart iſt uns nichts an-
ders, als das freiwillige Daſeyn, das Beſtehen der Dinge
durch ſich ſelbſt, die Exiſtenz nach eignen und unabaͤnder-
lichen Geſetzen.

Dieſe Vorſtellung iſt ſchlechterdings noͤthig, wenn
wir an dergleichen Erſcheinungen Intereſſe nehmen ſol-
len. Koͤnnte man einer gemachten Blume den Schein
der Natur, mit der vollkommenſten Taͤuſchung geben,
koͤnnte man die Nachahmung des Naiven in den Sitten
bis zur hoͤchſten Illuſion treiben, ſo wuͤrde die Entdeckung
daß es Nachahmung ſey, das Gefuͤhl, von dem die Rede
iſt, gaͤnzlich vernichten.* Daraus erhellet, daß dieſe

* Kant, meines Wiſſens der erſte, der uͤber dieſes Phaͤnomen
eigends zu reflektiren angefangen, erinnert, daß wenn wir
von einem Menſchen den Schlag der Nachtigall bis zur hoͤch-
ſten Taͤuſchung nachgeahmt faͤnden, und uns dem Eindruck
deſſelben mit ganzer Ruͤhrung uͤberlieſſen, mit der Zerſtoͤ-
rung dieſer Illuſion alle unſere Luſt verſchwinden wuͤrde.
Man ſehe das Kapitel vom intellektuellen Inter-
eſſe am Schoͤnen
in der Critik der aͤſthetiſchen Urtheils-
kraft. Wer den Verfaſſer nur als einen großen Denker
bewundern gelernt hat, wird ſich freuen, hier auf eine
Spur ſeines Herzens zu treffen, und ſich durch dieſe Ent-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0012" n="44"/>
werde; zweytens daß er (in weite&#x017F;ter Bedeutung des Worts)<lb/><hi rendition="#g">naiv</hi> &#x017F;ey, d. h. daß die Natur mit der Kun&#x017F;t im Kon-<lb/>
tra&#x017F;te &#x017F;tehe und &#x017F;ie be&#x017F;cha&#x0364;me. Sobald das letzte zu dem<lb/>
er&#x017F;ten hinzukommt, und nicht eher, wird die Natur zum<lb/>
Naiven.</p><lb/>
        <p>Natur in die&#x017F;er Betrachtungsart i&#x017F;t uns nichts an-<lb/>
ders, als das freiwillige Da&#x017F;eyn, das Be&#x017F;tehen der Dinge<lb/>
durch &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, die Exi&#x017F;tenz nach eignen und unaba&#x0364;nder-<lb/>
lichen Ge&#x017F;etzen.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;e Vor&#x017F;tellung i&#x017F;t &#x017F;chlechterdings no&#x0364;thig, wenn<lb/>
wir an dergleichen Er&#x017F;cheinungen Intere&#x017F;&#x017F;e nehmen &#x017F;ol-<lb/>
len. Ko&#x0364;nnte man einer gemachten Blume den Schein<lb/>
der Natur, mit der vollkommen&#x017F;ten Ta&#x0364;u&#x017F;chung geben,<lb/>
ko&#x0364;nnte man die Nachahmung des Naiven in den Sitten<lb/>
bis zur ho&#x0364;ch&#x017F;ten Illu&#x017F;ion treiben, &#x017F;o wu&#x0364;rde die Entdeckung<lb/>
daß es Nachahmung &#x017F;ey, das Gefu&#x0364;hl, von dem die Rede<lb/>
i&#x017F;t, ga&#x0364;nzlich vernichten.<note xml:id="seg2pn_1_1" next="#seg2pn_1_2" place="foot" n="*">Kant, meines Wi&#x017F;&#x017F;ens der er&#x017F;te, der u&#x0364;ber die&#x017F;es Pha&#x0364;nomen<lb/>
eigends zu reflektiren angefangen, erinnert, daß wenn wir<lb/>
von einem Men&#x017F;chen den Schlag der Nachtigall bis zur ho&#x0364;ch-<lb/>
&#x017F;ten Ta&#x0364;u&#x017F;chung nachgeahmt fa&#x0364;nden, und uns dem Eindruck<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben mit ganzer Ru&#x0364;hrung u&#x0364;berlie&#x017F;&#x017F;en, mit der Zer&#x017F;to&#x0364;-<lb/>
rung die&#x017F;er Illu&#x017F;ion alle un&#x017F;ere Lu&#x017F;t ver&#x017F;chwinden wu&#x0364;rde.<lb/>
Man &#x017F;ehe das Kapitel <hi rendition="#g">vom intellektuellen Inter-<lb/>
e&#x017F;&#x017F;e am Scho&#x0364;nen</hi> in der Critik der a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen Urtheils-<lb/>
kraft. Wer den Verfa&#x017F;&#x017F;er nur als einen großen Denker<lb/>
bewundern gelernt hat, wird &#x017F;ich freuen, hier auf eine<lb/>
Spur &#x017F;eines Herzens zu treffen, und &#x017F;ich durch die&#x017F;e Ent-</note> Daraus erhellet, daß die&#x017F;e<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0012] werde; zweytens daß er (in weiteſter Bedeutung des Worts) naiv ſey, d. h. daß die Natur mit der Kunſt im Kon- traſte ſtehe und ſie beſchaͤme. Sobald das letzte zu dem erſten hinzukommt, und nicht eher, wird die Natur zum Naiven. Natur in dieſer Betrachtungsart iſt uns nichts an- ders, als das freiwillige Daſeyn, das Beſtehen der Dinge durch ſich ſelbſt, die Exiſtenz nach eignen und unabaͤnder- lichen Geſetzen. Dieſe Vorſtellung iſt ſchlechterdings noͤthig, wenn wir an dergleichen Erſcheinungen Intereſſe nehmen ſol- len. Koͤnnte man einer gemachten Blume den Schein der Natur, mit der vollkommenſten Taͤuſchung geben, koͤnnte man die Nachahmung des Naiven in den Sitten bis zur hoͤchſten Illuſion treiben, ſo wuͤrde die Entdeckung daß es Nachahmung ſey, das Gefuͤhl, von dem die Rede iſt, gaͤnzlich vernichten. * Daraus erhellet, daß dieſe * Kant, meines Wiſſens der erſte, der uͤber dieſes Phaͤnomen eigends zu reflektiren angefangen, erinnert, daß wenn wir von einem Menſchen den Schlag der Nachtigall bis zur hoͤch- ſten Taͤuſchung nachgeahmt faͤnden, und uns dem Eindruck deſſelben mit ganzer Ruͤhrung uͤberlieſſen, mit der Zerſtoͤ- rung dieſer Illuſion alle unſere Luſt verſchwinden wuͤrde. Man ſehe das Kapitel vom intellektuellen Inter- eſſe am Schoͤnen in der Critik der aͤſthetiſchen Urtheils- kraft. Wer den Verfaſſer nur als einen großen Denker bewundern gelernt hat, wird ſich freuen, hier auf eine Spur ſeines Herzens zu treffen, und ſich durch dieſe Ent-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/12
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/12>, abgerufen am 21.11.2024.