Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.schämen, unsre Muster sind. Eine beständige Götterer- Da sich dieses Interesse für Natur auf eine Idee ſchaͤmen, unſre Muſter ſind. Eine beſtaͤndige Goͤtterer- Da ſich dieſes Intereſſe fuͤr Natur auf eine Idee <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0014" n="46"/> ſchaͤmen, unſre Muſter ſind. Eine beſtaͤndige Goͤtterer-<lb/> ſcheinung umgeben ſie uns, aber mehr erquickend als<lb/> blendend. Was ihren Character ausmacht, iſt gerade<lb/> das, was dem unſrigen zu ſeiner Vollendung mangelt;<lb/> was uns von ihnen unterſcheidet, iſt gerade das, was<lb/> ihnen ſelbſt zur Goͤttlichkeit fehlt. Wir ſind frey und ſie<lb/> ſind nothwendig; wir wechſeln, ſie bleiben eins. Aber<lb/> nur, wenn beydes ſich mit einander verbindet — wenn<lb/> der Wille das Geſetz der Nothwendigkeit frey befolgt<lb/> und bey allem Wechſel der Phantaſie die Vernunft ihre<lb/> Regel behauptet, geht das Goͤttliche oder das Ideal her-<lb/> vor. Wir erblicken <hi rendition="#g">in ihnen</hi> alſo ewig das, was uns<lb/> abgeht, aber wornach wir aufgefodert ſind zu ringen,<lb/> und dem wir uns, wenn wir es gleich niemals errei-<lb/> chen, doch in einem unendlichen Fortſchritte zu naͤhern<lb/> hoffen duͤrfen. Wir erblicken <hi rendition="#g">in uns</hi> einen Vorzug,<lb/> der ihnen fehlt, aber deſſen ſie entweder uͤberhaupt nie-<lb/> mals, wie das vernunftloſe, oder nicht anders als in-<lb/> dem ſie <hi rendition="#g">unſern</hi> Weg gehen, wie die Kindheit, theil-<lb/> haftig werden koͤnnen. Sie verſchaffen uns daher den<lb/> ſuͤſſeſten Genuß unſerer Menſchheit als Idee, ob ſie uns<lb/> gleich in Ruͤckſicht auf jeden <hi rendition="#g">beſtimmten Zuſtand</hi> un-<lb/> ſerer Menſchheit nothwendig demuͤthigen muͤſſen.</p><lb/> <p>Da ſich dieſes Intereſſe fuͤr Natur auf eine Idee<lb/> gruͤndet, ſo kann es ſich nur in Gemuͤthern zeigen, welche<lb/> fuͤr Ideen empfaͤnglich ſind, d. h. in moraliſchen. Bey<lb/> weitem die mehreſten Menſchen affektiren es bloß, und<lb/> die Allgemeinheit dieſes ſentimentaliſchen Geſchmacks zu<lb/> unſern Zeiten, welcher ſich beſonders ſeit der Erſcheinung<lb/> gewiſſer Schriften, in empfindſamen Reiſen, dergleichen<lb/> Gaͤrten, Spaziergaͤngen, und andere Liebhabereyen dieſer<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [46/0014]
ſchaͤmen, unſre Muſter ſind. Eine beſtaͤndige Goͤtterer-
ſcheinung umgeben ſie uns, aber mehr erquickend als
blendend. Was ihren Character ausmacht, iſt gerade
das, was dem unſrigen zu ſeiner Vollendung mangelt;
was uns von ihnen unterſcheidet, iſt gerade das, was
ihnen ſelbſt zur Goͤttlichkeit fehlt. Wir ſind frey und ſie
ſind nothwendig; wir wechſeln, ſie bleiben eins. Aber
nur, wenn beydes ſich mit einander verbindet — wenn
der Wille das Geſetz der Nothwendigkeit frey befolgt
und bey allem Wechſel der Phantaſie die Vernunft ihre
Regel behauptet, geht das Goͤttliche oder das Ideal her-
vor. Wir erblicken in ihnen alſo ewig das, was uns
abgeht, aber wornach wir aufgefodert ſind zu ringen,
und dem wir uns, wenn wir es gleich niemals errei-
chen, doch in einem unendlichen Fortſchritte zu naͤhern
hoffen duͤrfen. Wir erblicken in uns einen Vorzug,
der ihnen fehlt, aber deſſen ſie entweder uͤberhaupt nie-
mals, wie das vernunftloſe, oder nicht anders als in-
dem ſie unſern Weg gehen, wie die Kindheit, theil-
haftig werden koͤnnen. Sie verſchaffen uns daher den
ſuͤſſeſten Genuß unſerer Menſchheit als Idee, ob ſie uns
gleich in Ruͤckſicht auf jeden beſtimmten Zuſtand un-
ſerer Menſchheit nothwendig demuͤthigen muͤſſen.
Da ſich dieſes Intereſſe fuͤr Natur auf eine Idee
gruͤndet, ſo kann es ſich nur in Gemuͤthern zeigen, welche
fuͤr Ideen empfaͤnglich ſind, d. h. in moraliſchen. Bey
weitem die mehreſten Menſchen affektiren es bloß, und
die Allgemeinheit dieſes ſentimentaliſchen Geſchmacks zu
unſern Zeiten, welcher ſich beſonders ſeit der Erſcheinung
gewiſſer Schriften, in empfindſamen Reiſen, dergleichen
Gaͤrten, Spaziergaͤngen, und andere Liebhabereyen dieſer
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