Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.aus innrer Größe verschmähte, so ist jener Triumph des * Kant in einer Anmerkung zu der Analytik des Erhabe- nen (Critik der ästhetischen Urtheilskraft. S. 225. der ersten Auflage) unterscheidet gleichfalls diese dreyerley In- gredienzien in dem Gefühl des Naiven, aber er giebt davon eine andre Erklärung. "Etwas aus beidem (dem animali- "schen Gefühl des Vergnügens und dem geistigen Gefühl "der Achtung) zusammengesetztes findet sich in der Naivi- "tät, die der Ausbruch der der Menschheit ursprünglich na- "türlichen Aufrichtigkeit wider die zur andern Natur ge- "wordene Verstellungskunst ist. Man lacht über die Ein- "falt, die es noch nicht versteht sich zu verstellen und er- "freut sich doch auch über die Einfalt der Natur, die "jener Kunst hier einen Querstrich spielt. Man erwartete "die alltägliche Sitte der gekünstelten und den schönen "Schein vorsichtig angelegten Aeusserung und siehe es ist "die unverdorbene schuldlose Natur, die man anzutreffen "gar nicht gewärtig und der, so sie bliken ließ, zu ent- "blößen auch nicht gemeynet war. Daß der schöne, aber "falsche Schein, der gewöhnlich in unserm Urtheile sehr "viel bedeutet, hier plötzlich in Nichts verwandelt, daß Die Horen. 1795. 11tes St. 4
aus innrer Groͤße verſchmaͤhte, ſo iſt jener Triumph des * Kant in einer Anmerkung zu der Analytik des Erhabe- nen (Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. S. 225. der erſten Auflage) unterſcheidet gleichfalls dieſe dreyerley In- gredienzien in dem Gefuͤhl des Naiven, aber er giebt davon eine andre Erklaͤrung. „Etwas aus beidem (dem animali- „ſchen Gefuͤhl des Vergnuͤgens und dem geiſtigen Gefuͤhl „der Achtung) zuſammengeſetztes findet ſich in der Naivi- „taͤt, die der Ausbruch der der Menſchheit urſpruͤnglich na- „tuͤrlichen Aufrichtigkeit wider die zur andern Natur ge- „wordene Verſtellungskunſt iſt. Man lacht uͤber die Ein- „falt, die es noch nicht verſteht ſich zu verſtellen und er- „freut ſich doch auch uͤber die Einfalt der Natur, die „jener Kunſt hier einen Querſtrich ſpielt. Man erwartete „die alltaͤgliche Sitte der gekuͤnſtelten und den ſchoͤnen „Schein vorſichtig angelegten Aeuſſerung und ſiehe es iſt „die unverdorbene ſchuldloſe Natur, die man anzutreffen „gar nicht gewaͤrtig und der, ſo ſie bliken ließ, zu ent- „bloͤßen auch nicht gemeynet war. Daß der ſchoͤne, aber „falſche Schein, der gewoͤhnlich in unſerm Urtheile ſehr „viel bedeutet, hier ploͤtzlich in Nichts verwandelt, daß Die Horen. 1795. 11tes St. 4
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0017" n="49"/> aus innrer Groͤße verſchmaͤhte, ſo iſt jener Triumph des<lb/> Verſtandes vorbey, und der Spott uͤber die Einfaͤltigkeit<lb/> geht in Bewunderung der hohen Einfachheit uͤber. Wir<lb/> fuͤhlen uns genoͤthigt, den Gegenſtand zu achten, uͤber<lb/> den wir vorher <hi rendition="#g">gelaͤchelt</hi> haben, und, indem wir zugleich<lb/> einen Blick in uns ſelbſt werfen, uns zu <hi rendition="#g">beklagen</hi>,<lb/> daß wir demſelben nicht aͤhnlich ſind. So entſteht die<lb/> ganz eigene Erſcheinung eines Gefuͤhls, in welchem froͤh-<lb/> licher Spott, Ehrfurcht und Wehmuth zuſammenflieſſen.<note xml:id="seg2pn_2_1" next="#seg2pn_2_2" place="foot" n="*"><hi rendition="#g">Kant</hi> in einer Anmerkung zu der Analytik des Erhabe-<lb/> nen (Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. S. 225. der<lb/> erſten Auflage) unterſcheidet gleichfalls dieſe dreyerley In-<lb/> gredienzien in dem Gefuͤhl des Naiven, aber er giebt davon<lb/> eine andre Erklaͤrung. „Etwas aus beidem (dem animali-<lb/> „ſchen Gefuͤhl des Vergnuͤgens und dem geiſtigen Gefuͤhl<lb/> „der Achtung) zuſammengeſetztes findet ſich in der Naivi-<lb/> „taͤt, die der Ausbruch der der Menſchheit urſpruͤnglich na-<lb/> „tuͤrlichen Aufrichtigkeit wider die zur andern Natur ge-<lb/> „wordene Verſtellungskunſt iſt. Man lacht uͤber die Ein-<lb/> „falt, die es noch nicht verſteht ſich zu verſtellen und er-<lb/> „freut ſich doch auch uͤber die Einfalt der Natur, die<lb/> „jener Kunſt hier einen Querſtrich ſpielt. Man erwartete<lb/> „die alltaͤgliche Sitte der gekuͤnſtelten und den ſchoͤnen<lb/> „Schein vorſichtig angelegten Aeuſſerung und ſiehe es iſt<lb/> „die unverdorbene ſchuldloſe Natur, die man anzutreffen<lb/> „gar nicht gewaͤrtig und der, ſo ſie bliken ließ, zu ent-<lb/> „bloͤßen auch nicht gemeynet war. Daß der ſchoͤne, aber<lb/> „falſche Schein, der gewoͤhnlich in unſerm Urtheile ſehr<lb/> „viel bedeutet, hier ploͤtzlich in Nichts verwandelt, daß</note><lb/> <fw place="bottom" type="sig">Die Horen. 1795. 11tes St. 4</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [49/0017]
aus innrer Groͤße verſchmaͤhte, ſo iſt jener Triumph des
Verſtandes vorbey, und der Spott uͤber die Einfaͤltigkeit
geht in Bewunderung der hohen Einfachheit uͤber. Wir
fuͤhlen uns genoͤthigt, den Gegenſtand zu achten, uͤber
den wir vorher gelaͤchelt haben, und, indem wir zugleich
einen Blick in uns ſelbſt werfen, uns zu beklagen,
daß wir demſelben nicht aͤhnlich ſind. So entſteht die
ganz eigene Erſcheinung eines Gefuͤhls, in welchem froͤh-
licher Spott, Ehrfurcht und Wehmuth zuſammenflieſſen. *
* Kant in einer Anmerkung zu der Analytik des Erhabe-
nen (Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. S. 225. der
erſten Auflage) unterſcheidet gleichfalls dieſe dreyerley In-
gredienzien in dem Gefuͤhl des Naiven, aber er giebt davon
eine andre Erklaͤrung. „Etwas aus beidem (dem animali-
„ſchen Gefuͤhl des Vergnuͤgens und dem geiſtigen Gefuͤhl
„der Achtung) zuſammengeſetztes findet ſich in der Naivi-
„taͤt, die der Ausbruch der der Menſchheit urſpruͤnglich na-
„tuͤrlichen Aufrichtigkeit wider die zur andern Natur ge-
„wordene Verſtellungskunſt iſt. Man lacht uͤber die Ein-
„falt, die es noch nicht verſteht ſich zu verſtellen und er-
„freut ſich doch auch uͤber die Einfalt der Natur, die
„jener Kunſt hier einen Querſtrich ſpielt. Man erwartete
„die alltaͤgliche Sitte der gekuͤnſtelten und den ſchoͤnen
„Schein vorſichtig angelegten Aeuſſerung und ſiehe es iſt
„die unverdorbene ſchuldloſe Natur, die man anzutreffen
„gar nicht gewaͤrtig und der, ſo ſie bliken ließ, zu ent-
„bloͤßen auch nicht gemeynet war. Daß der ſchoͤne, aber
„falſche Schein, der gewoͤhnlich in unſerm Urtheile ſehr
„viel bedeutet, hier ploͤtzlich in Nichts verwandelt, daß
Die Horen. 1795. 11tes St. 4
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |