Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.ben, daß er diesen Schritt für gar nicht so unpolitisch Naiv muß jedes wahre Genie seyn, oder es ist keines. ben, daß er dieſen Schritt fuͤr gar nicht ſo unpolitiſch Naiv muß jedes wahre Genie ſeyn, oder es iſt keines. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0027" n="59"/> ben, daß er dieſen Schritt fuͤr gar nicht ſo unpolitiſch<lb/> hielt, und in ſeiner Unſchuld ſo weit gieng zu hoffen,<lb/> durch ſeine Nachgiebigkeit gegen die Gegner etwas ſehr<lb/> wichtiges fuͤr den Vortheil ſeiner Kirche gewonnen zu ha-<lb/> ben. Er bildete ſich nicht bloß ein, dieſen Schritt als<lb/> redlicher Mann thun zu muͤſſen, ſondern ihn auch als<lb/> Pabſt verantworten zu koͤnnen, und indem er vergaß, daß<lb/> das kuͤnſtlichſte aller Gebaͤude ſchlechterdings nur durch<lb/> eine fortgeſetzte Verlaͤugnung der Wahrheit erhalten wer-<lb/> den koͤnnte, begieng er den unverzeyhlichen Fehler, Ver-<lb/> haltungsregeln, die in natuͤrlichen Verhaͤltniſſen ſich be-<lb/> waͤhrt haben mochten, in einer ganz entgegengeſetzten La-<lb/> ge zu befolgen. Dieß veraͤndert allerdings unſer Urtheil<lb/> ſehr; und ob wir gleich der Redlichkeit des Herzens, aus<lb/> dem jene Handlung floß, unſere Achtung nicht verſagen<lb/> koͤnnen, ſo wird dieſe letztere nicht wenig durch die Be-<lb/> trachtung geſchwaͤcht, daß die Natur an der Kunſt und<lb/> das Herz an dem Kopf einen zu ſchwachen Gegner gehabt<lb/> habe.</p><lb/> <p>Naiv muß jedes wahre Genie ſeyn, oder es iſt keines.<lb/> Seine Naivheit allein macht es zum Genie, und was<lb/> es im Intellektuellen und Aeſthetiſchen iſt, kann es im<lb/> Moraliſchen nicht verlaͤugnen. Unbekannt mit den Re-<lb/> geln, den Kruͤcken der Schwachheit und den Zuchtmei-<lb/> ſtern der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem In-<lb/> ſtinkt, ſeinem ſchuͤtzenden Engel, geleitet, geht es ruhig und<lb/> ſicher durch alle Schlingen des falſchen Geſchmackes, in<lb/> welchen, wenn es nicht ſo klug iſt, ſie ſchon von weitem<lb/> zu vermeiden, das Nichtgenie unausbleiblich verſtrickt<lb/> wird. Nur dem Genie iſt es gegeben, auſſerhalb des Be-<lb/> kannten noch immer zu Hauſe zu ſeyn, und die Natur zu <hi rendition="#g">er-<lb/></hi></p> </div> </body> </text> </TEI> [59/0027]
ben, daß er dieſen Schritt fuͤr gar nicht ſo unpolitiſch
hielt, und in ſeiner Unſchuld ſo weit gieng zu hoffen,
durch ſeine Nachgiebigkeit gegen die Gegner etwas ſehr
wichtiges fuͤr den Vortheil ſeiner Kirche gewonnen zu ha-
ben. Er bildete ſich nicht bloß ein, dieſen Schritt als
redlicher Mann thun zu muͤſſen, ſondern ihn auch als
Pabſt verantworten zu koͤnnen, und indem er vergaß, daß
das kuͤnſtlichſte aller Gebaͤude ſchlechterdings nur durch
eine fortgeſetzte Verlaͤugnung der Wahrheit erhalten wer-
den koͤnnte, begieng er den unverzeyhlichen Fehler, Ver-
haltungsregeln, die in natuͤrlichen Verhaͤltniſſen ſich be-
waͤhrt haben mochten, in einer ganz entgegengeſetzten La-
ge zu befolgen. Dieß veraͤndert allerdings unſer Urtheil
ſehr; und ob wir gleich der Redlichkeit des Herzens, aus
dem jene Handlung floß, unſere Achtung nicht verſagen
koͤnnen, ſo wird dieſe letztere nicht wenig durch die Be-
trachtung geſchwaͤcht, daß die Natur an der Kunſt und
das Herz an dem Kopf einen zu ſchwachen Gegner gehabt
habe.
Naiv muß jedes wahre Genie ſeyn, oder es iſt keines.
Seine Naivheit allein macht es zum Genie, und was
es im Intellektuellen und Aeſthetiſchen iſt, kann es im
Moraliſchen nicht verlaͤugnen. Unbekannt mit den Re-
geln, den Kruͤcken der Schwachheit und den Zuchtmei-
ſtern der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem In-
ſtinkt, ſeinem ſchuͤtzenden Engel, geleitet, geht es ruhig und
ſicher durch alle Schlingen des falſchen Geſchmackes, in
welchen, wenn es nicht ſo klug iſt, ſie ſchon von weitem
zu vermeiden, das Nichtgenie unausbleiblich verſtrickt
wird. Nur dem Genie iſt es gegeben, auſſerhalb des Be-
kannten noch immer zu Hauſe zu ſeyn, und die Natur zu er-
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