Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.Aber wenn du über das verlorene Glück der Natur Wenn man sich der schönen Natur erinnert, welche Aber wenn du uͤber das verlorene Gluͤck der Natur Wenn man ſich der ſchoͤnen Natur erinnert, welche <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0034" n="66"/> <p>Aber wenn du uͤber das verlorene <hi rendition="#g">Gluͤck</hi> der Natur<lb/> getroͤſtet biſt, ſo laß ihre <hi rendition="#g">Vollkommenheit</hi> deinem<lb/> Herzen zum Muſter dienen. Trittſt du heraus zu ihr<lb/> aus deinem kuͤnſtlichen Kreis, ſteht ſie vor dir in ihrer<lb/> großen Ruhe, in ihrer naiven Schoͤnheit, in ihrer kind-<lb/> lichen Unſchuld und Einfalt; dann verweile bey dieſem<lb/> Bilde, pflege dieſes Gefuͤhl, es iſt deiner herrlichſten<lb/> Menſchheit wuͤrdig. Laß dir nicht mehr einfallen, mit<lb/> ihr <hi rendition="#g">tauſchen</hi> zu wollen, aber nimm ſie in dich auf und<lb/> ſtrebe, ihren unendlichen Vorzug mit deinem eigenen<lb/> unendlichen Praͤrogativ zu vermaͤhlen, und aus beydem<lb/> das Goͤttliche zu erzeugen. Sie umgebe dich wie eine<lb/> liebliche <hi rendition="#g">Idylle,</hi> in der du dich ſelbſt immer wieder-<lb/> findeſt, aus den Verirrungen der Kunſt, bey der du Muth<lb/> und neues Vertrauen ſammelſt zum Laufe und die Flamme<lb/> des <hi rendition="#g">Ideals,</hi> die in den Stuͤrmen des Lebens ſo leicht<lb/> erliſcht, in deinem Herzen von neuem entzuͤndeſt.</p><lb/> <p>Wenn man ſich der ſchoͤnen Natur erinnert, welche<lb/> die alten <hi rendition="#g">Griechen</hi> umgab, wenn man nachdenkt, wie<lb/> vertraut dieſes Volk unter ſeinem gluͤcklichen Himmel mit<lb/> der freyen Natur leben konnte, wie ſehr viel naͤher ſeine<lb/> Vorſtellungsart, ſeine Empfindungsweiſe, ſeine Sitten<lb/> der einfaͤltigen Natur lagen, und welch ein treuer Ab-<lb/> druck derſelben ſeine Dichterwerke ſind, ſo muß die Be-<lb/> merkung befremden, daß man ſo wenige Spuren von dem<lb/><hi rendition="#g">ſentimentaliſchen</hi> Intereſſe, mit welchem wir Neuere<lb/> an Naturſcenen und an Naturcharaktere hangen koͤnnen,<lb/> bey demſelben antrift. Der Grieche iſt zwar im hoͤchſten<lb/> Grade genau, treu, umſtaͤndlich in Beſchreibung derſel-<lb/> ben, aber doch gerade nicht mehr und mit keinem vor-<lb/> zuͤglicheren Herzensantheil, als er es auch in Beſchrei-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [66/0034]
Aber wenn du uͤber das verlorene Gluͤck der Natur
getroͤſtet biſt, ſo laß ihre Vollkommenheit deinem
Herzen zum Muſter dienen. Trittſt du heraus zu ihr
aus deinem kuͤnſtlichen Kreis, ſteht ſie vor dir in ihrer
großen Ruhe, in ihrer naiven Schoͤnheit, in ihrer kind-
lichen Unſchuld und Einfalt; dann verweile bey dieſem
Bilde, pflege dieſes Gefuͤhl, es iſt deiner herrlichſten
Menſchheit wuͤrdig. Laß dir nicht mehr einfallen, mit
ihr tauſchen zu wollen, aber nimm ſie in dich auf und
ſtrebe, ihren unendlichen Vorzug mit deinem eigenen
unendlichen Praͤrogativ zu vermaͤhlen, und aus beydem
das Goͤttliche zu erzeugen. Sie umgebe dich wie eine
liebliche Idylle, in der du dich ſelbſt immer wieder-
findeſt, aus den Verirrungen der Kunſt, bey der du Muth
und neues Vertrauen ſammelſt zum Laufe und die Flamme
des Ideals, die in den Stuͤrmen des Lebens ſo leicht
erliſcht, in deinem Herzen von neuem entzuͤndeſt.
Wenn man ſich der ſchoͤnen Natur erinnert, welche
die alten Griechen umgab, wenn man nachdenkt, wie
vertraut dieſes Volk unter ſeinem gluͤcklichen Himmel mit
der freyen Natur leben konnte, wie ſehr viel naͤher ſeine
Vorſtellungsart, ſeine Empfindungsweiſe, ſeine Sitten
der einfaͤltigen Natur lagen, und welch ein treuer Ab-
druck derſelben ſeine Dichterwerke ſind, ſo muß die Be-
merkung befremden, daß man ſo wenige Spuren von dem
ſentimentaliſchen Intereſſe, mit welchem wir Neuere
an Naturſcenen und an Naturcharaktere hangen koͤnnen,
bey demſelben antrift. Der Grieche iſt zwar im hoͤchſten
Grade genau, treu, umſtaͤndlich in Beſchreibung derſel-
ben, aber doch gerade nicht mehr und mit keinem vor-
zuͤglicheren Herzensantheil, als er es auch in Beſchrei-
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