Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.wehrung der Leidenschaft seine Kunst; und diese Kunst ist * Im Nathan dem Weisen ist dieses nicht geschehen, hier hat die frostige Natur des Stoffs das ganze Kunstwerk erkältet. Aber Lessing wußte selbst, daß er kein Trauerspiel schrieb, und vergaß nur, menschlicher weise, in seiner eigenen Ange- legenheit die in der Dramaturgie aufgestellte Lehre, daß der Dichter nicht befugt sey, die tragische Form zu einem an- dern als tragischen Zweck anzuwenden. Ohne sehr wesentli- che Veränderungen würde es kaum möglich gewesen seyn, dieses dramatische Gedicht in eine gute Tragödie umzuschaf- fen; aber mit bloß zufälligen Veränderungen möchte es eine gute Comödie abgegeben haben. Dem letztern Zweck nehm- lich hätte das Pathetische dem erstern das Raisonnierende auf- geopfert werden müssen, und es ist wohl keine Frage, auf welchem von beyden die Schönheit dieses Gedichts am mei- sten beruht. Die Horen. 1795. 12tes St. 2
wehrung der Leidenſchaft ſeine Kunſt; und dieſe Kunſt iſt * Im Nathan dem Weiſen iſt dieſes nicht geſchehen, hier hat die froſtige Natur des Stoffs das ganze Kunſtwerk erkaͤltet. Aber Leſſing wußte ſelbſt, daß er kein Trauerſpiel ſchrieb, und vergaß nur, menſchlicher weiſe, in ſeiner eigenen Ange- legenheit die in der Dramaturgie aufgeſtellte Lehre, daß der Dichter nicht befugt ſey, die tragiſche Form zu einem an- dern als tragiſchen Zweck anzuwenden. Ohne ſehr weſentli- che Veraͤnderungen wuͤrde es kaum moͤglich geweſen ſeyn, dieſes dramatiſche Gedicht in eine gute Tragoͤdie umzuſchaf- fen; aber mit bloß zufaͤlligen Veraͤnderungen moͤchte es eine gute Comoͤdie abgegeben haben. Dem letztern Zweck nehm- lich haͤtte das Pathetiſche dem erſtern das Raiſonnierende auf- geopfert werden muͤſſen, und es iſt wohl keine Frage, auf welchem von beyden die Schoͤnheit dieſes Gedichts am mei- ſten beruht. Die Horen. 1795. 12tes St. 2
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wehrung der Leidenſchaft ſeine Kunſt; und dieſe Kunſt iſt
natuͤrlich auf beyden Seiten um ſo groͤſſer, je mehr der
Gegenſtand des Einen abſtrakter Natur iſt, und der des
Andern ſich zum pathetiſchen neigt. * Wenn alſo die Tra-
goͤdie von einem nichtigern Punkt ausgeht, ſo muß man
auf der andern Seite geſtehen, daß die Comoͤdie einem
wichtigern Ziel entgegen geht, und ſie wuͤrde, wenn ſie es
erreichte, alle Tragoͤdie uͤberfluͤßig und unmoͤglich machen.
Ihr Ziel iſt einerley mit dem hoͤchſten, wornach der Menſch
zu ringen hat, frey von Leidenſchaft zu ſeyn, immer klar
immer ruhig um ſich und in ſich zu ſchauen, uͤberall mehr
Zufall als Schickſal zu finden, und mehr uͤber Ungereimt-
heit zu lachen als uͤber Boßheit zu zuͤrnen oder zu weinen.
* Im Nathan dem Weiſen iſt dieſes nicht geſchehen, hier hat
die froſtige Natur des Stoffs das ganze Kunſtwerk erkaͤltet.
Aber Leſſing wußte ſelbſt, daß er kein Trauerſpiel ſchrieb,
und vergaß nur, menſchlicher weiſe, in ſeiner eigenen Ange-
legenheit die in der Dramaturgie aufgeſtellte Lehre, daß der
Dichter nicht befugt ſey, die tragiſche Form zu einem an-
dern als tragiſchen Zweck anzuwenden. Ohne ſehr weſentli-
che Veraͤnderungen wuͤrde es kaum moͤglich geweſen ſeyn,
dieſes dramatiſche Gedicht in eine gute Tragoͤdie umzuſchaf-
fen; aber mit bloß zufaͤlligen Veraͤnderungen moͤchte es eine
gute Comoͤdie abgegeben haben. Dem letztern Zweck nehm-
lich haͤtte das Pathetiſche dem erſtern das Raiſonnierende auf-
geopfert werden muͤſſen, und es iſt wohl keine Frage, auf
welchem von beyden die Schoͤnheit dieſes Gedichts am mei-
ſten beruht.
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