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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

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fühls offenbaren, der allem Spiele, wenn es poetisch seyn
soll, zum Grunde liegen muß. Selbst durch den boßhaf-
ten Scherz, womit sowohl Lucian als Aristophanes den
Sokrates mißhandeln, blickt eine ernste Vernunft hervor,
welche die Wahrheit an dem Sophisten rächt, und für
ein Ideal streitet, das sie nur nicht immer ausspricht.
Auch hat der erste von beyden in seinem Diogenes und
Dämonax diesen Charakter gegen alle Zweifel gerechtfer-
tigt; unter den Neuern welchen großen und schönen Cha-
rakter drückt nicht Cervantes bey jedem würdigen An-
laß in seinem Don Quixote aus, welch ein herrliches
Ideal mußte nicht in der Seele des Dichters leben, der
einen Tom Jones und eine Sophia erschuf, wie
kann der Lacher Yorik sobald er will unser Gemüth so
groß und so mächtig bewegen. Auch in unserm Wieland
erkenne ich diesen Ernst der Empfindung; selbst die muth-
willigen Spiele seiner Laune beseelt und adelt die Gra-
zie des Herzens; selbst in den Rhythmus seines Gesanges
drückt sie ihr Gepräg, und nimmer fehlt ihm die
Schwungkraft, uns, sobald es gilt, zu dem Höchsten em-
por zu tragen.

Von der Voltairischen Satyre läßt sich kein solches
Urtheil fällen. Zwar ist es auch bey diesem Schriftsteller
einzig nur die Wahrheit und Simplicität der Natur, wo-
durch er uns zuweilen poetisch rührt; es sey nun, daß
er sie in einem naiven Charakter wirklich erreiche, wie
mehrmal in seinem Ingenu, oder daß er sie, wie in sei-
nem Candide u. a. suche und räche. Wo keines von
beyden der Fall ist, da kann er uns zwar als witziger
Kopf belustigen, aber gewiß nicht als Dichter bewegen.
Aber seinem Spott liegt überall zu wenig Ernst zum

fuͤhls offenbaren, der allem Spiele, wenn es poetiſch ſeyn
ſoll, zum Grunde liegen muß. Selbſt durch den boßhaf-
ten Scherz, womit ſowohl Lucian als Ariſtophanes den
Sokrates mißhandeln, blickt eine ernſte Vernunft hervor,
welche die Wahrheit an dem Sophiſten raͤcht, und fuͤr
ein Ideal ſtreitet, das ſie nur nicht immer ausſpricht.
Auch hat der erſte von beyden in ſeinem Diogenes und
Daͤmonax dieſen Charakter gegen alle Zweifel gerechtfer-
tigt; unter den Neuern welchen großen und ſchoͤnen Cha-
rakter druͤckt nicht Cervantes bey jedem wuͤrdigen An-
laß in ſeinem Don Quixote aus, welch ein herrliches
Ideal mußte nicht in der Seele des Dichters leben, der
einen Tom Jones und eine Sophia erſchuf, wie
kann der Lacher Yorik ſobald er will unſer Gemuͤth ſo
groß und ſo maͤchtig bewegen. Auch in unſerm Wieland
erkenne ich dieſen Ernſt der Empfindung; ſelbſt die muth-
willigen Spiele ſeiner Laune beſeelt und adelt die Gra-
zie des Herzens; ſelbſt in den Rhythmus ſeines Geſanges
druͤckt ſie ihr Gepraͤg, und nimmer fehlt ihm die
Schwungkraft, uns, ſobald es gilt, zu dem Hoͤchſten em-
por zu tragen.

Von der Voltairiſchen Satyre laͤßt ſich kein ſolches
Urtheil faͤllen. Zwar iſt es auch bey dieſem Schriftſteller
einzig nur die Wahrheit und Simplicitaͤt der Natur, wo-
durch er uns zuweilen poetiſch ruͤhrt; es ſey nun, daß
er ſie in einem naiven Charakter wirklich erreiche, wie
mehrmal in ſeinem Ingenu, oder daß er ſie, wie in ſei-
nem Candide u. a. ſuche und raͤche. Wo keines von
beyden der Fall iſt, da kann er uns zwar als witziger
Kopf beluſtigen, aber gewiß nicht als Dichter bewegen.
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[19/0026] fuͤhls offenbaren, der allem Spiele, wenn es poetiſch ſeyn ſoll, zum Grunde liegen muß. Selbſt durch den boßhaf- ten Scherz, womit ſowohl Lucian als Ariſtophanes den Sokrates mißhandeln, blickt eine ernſte Vernunft hervor, welche die Wahrheit an dem Sophiſten raͤcht, und fuͤr ein Ideal ſtreitet, das ſie nur nicht immer ausſpricht. Auch hat der erſte von beyden in ſeinem Diogenes und Daͤmonax dieſen Charakter gegen alle Zweifel gerechtfer- tigt; unter den Neuern welchen großen und ſchoͤnen Cha- rakter druͤckt nicht Cervantes bey jedem wuͤrdigen An- laß in ſeinem Don Quixote aus, welch ein herrliches Ideal mußte nicht in der Seele des Dichters leben, der einen Tom Jones und eine Sophia erſchuf, wie kann der Lacher Yorik ſobald er will unſer Gemuͤth ſo groß und ſo maͤchtig bewegen. Auch in unſerm Wieland erkenne ich dieſen Ernſt der Empfindung; ſelbſt die muth- willigen Spiele ſeiner Laune beſeelt und adelt die Gra- zie des Herzens; ſelbſt in den Rhythmus ſeines Geſanges druͤckt ſie ihr Gepraͤg, und nimmer fehlt ihm die Schwungkraft, uns, ſobald es gilt, zu dem Hoͤchſten em- por zu tragen. Von der Voltairiſchen Satyre laͤßt ſich kein ſolches Urtheil faͤllen. Zwar iſt es auch bey dieſem Schriftſteller einzig nur die Wahrheit und Simplicitaͤt der Natur, wo- durch er uns zuweilen poetiſch ruͤhrt; es ſey nun, daß er ſie in einem naiven Charakter wirklich erreiche, wie mehrmal in ſeinem Ingenu, oder daß er ſie, wie in ſei- nem Candide u. a. ſuche und raͤche. Wo keines von beyden der Fall iſt, da kann er uns zwar als witziger Kopf beluſtigen, aber gewiß nicht als Dichter bewegen. Aber ſeinem Spott liegt uͤberall zu wenig Ernſt zum

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/26>, abgerufen am 23.11.2024.