Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.unter der Würde der Dichtkunst. Der elegische Dichter Der Inhalt der dichterischen Klage kann also niemals unter der Wuͤrde der Dichtkunſt. Der elegiſche Dichter Der Inhalt der dichteriſchen Klage kann alſo niemals <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0030" n="23"/> unter der Wuͤrde der Dichtkunſt. Der elegiſche Dichter<lb/> fucht die Natur, aber in ihrer Schoͤnheit, nicht bloß<lb/> in ihrer Annehmlichkeit, in ihrer Uebereinſtimmung mit<lb/> Ideen, nicht bloß in ihrer Nachgiebigkeit gegen das Be-<lb/> duͤrfniß. Die Trauer uͤber verlorne Freuden, uͤber das<lb/> der Welt verſchwundene goldene Alter, uͤber das entflohene<lb/> Gluͤck der Jugend, der Liebe u. ſ. w. kann nur alsdann der<lb/> Stoff zu einer elegiſchen Dichtung werden, wenn jene<lb/> Zuſtaͤnde ſinnlichen Friedens zugleich als Gegenſtaͤnde mo-<lb/> raliſcher Harmonie ſich vorſtellen laſſen. Ich kann deß-<lb/> wegen die Klaggeſaͤnge des <hi rendition="#g">Ovid</hi>, die er aus ſeinem<lb/> Verbannungsort am <hi rendition="#g">Euxin</hi> anſtimmt, wie ruͤhrend ſie<lb/> auch ſind, und wie viel Dichteriſches auch einzelne Stel-<lb/> len haben, im Ganzen nicht wohl als ein poetiſches Werk<lb/> betrachten. Es iſt viel zu wenig Energie, viel zu wenig<lb/> Geiſt und Adel in ſeinem Schmerz. Das Beduͤrfniß,<lb/> nicht die Begeiſterung ſtieß jene Klagen aus; es athmet<lb/> darinn, wenn gleich keine gemeine Seele, doch die ge-<lb/> meine Stimmung eines edleren Geiſtes, den ſein Schick-<lb/> ſal zu Boden druͤckte. Zwar wenn wir uns erinnern, daß<lb/> es Rom, und das Rom des Auguſtus iſt, um das er<lb/> trauert, ſo verzeyhen wir dem Sohn der Freude ſeinen<lb/> Schmerz; aber ſelbſt das herrliche Rom mit allen ſeinen<lb/> Gluͤckſeligkeiten iſt, wenn nicht die Einbildungkraft es erſt<lb/> veredelt, bloß eine endliche Groͤße, mithin ein unwuͤrdiges<lb/> Objekt fuͤr die Dichtkunſt, die erhaben uͤber alles, was<lb/> die Wirklichkeit aufſtellt, nur das Recht hat, um das Un-<lb/> endliche zu trauern.</p><lb/> <p>Der Inhalt der dichteriſchen Klage kann alſo niemals<lb/> ein aͤußrer, jederzeit nur ein innerer idealiſcher Gegen-<lb/> ſtand ſeyn; ſelbſt wenn ſie einen Verluſt in der Wirklichkeit<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [23/0030]
unter der Wuͤrde der Dichtkunſt. Der elegiſche Dichter
fucht die Natur, aber in ihrer Schoͤnheit, nicht bloß
in ihrer Annehmlichkeit, in ihrer Uebereinſtimmung mit
Ideen, nicht bloß in ihrer Nachgiebigkeit gegen das Be-
duͤrfniß. Die Trauer uͤber verlorne Freuden, uͤber das
der Welt verſchwundene goldene Alter, uͤber das entflohene
Gluͤck der Jugend, der Liebe u. ſ. w. kann nur alsdann der
Stoff zu einer elegiſchen Dichtung werden, wenn jene
Zuſtaͤnde ſinnlichen Friedens zugleich als Gegenſtaͤnde mo-
raliſcher Harmonie ſich vorſtellen laſſen. Ich kann deß-
wegen die Klaggeſaͤnge des Ovid, die er aus ſeinem
Verbannungsort am Euxin anſtimmt, wie ruͤhrend ſie
auch ſind, und wie viel Dichteriſches auch einzelne Stel-
len haben, im Ganzen nicht wohl als ein poetiſches Werk
betrachten. Es iſt viel zu wenig Energie, viel zu wenig
Geiſt und Adel in ſeinem Schmerz. Das Beduͤrfniß,
nicht die Begeiſterung ſtieß jene Klagen aus; es athmet
darinn, wenn gleich keine gemeine Seele, doch die ge-
meine Stimmung eines edleren Geiſtes, den ſein Schick-
ſal zu Boden druͤckte. Zwar wenn wir uns erinnern, daß
es Rom, und das Rom des Auguſtus iſt, um das er
trauert, ſo verzeyhen wir dem Sohn der Freude ſeinen
Schmerz; aber ſelbſt das herrliche Rom mit allen ſeinen
Gluͤckſeligkeiten iſt, wenn nicht die Einbildungkraft es erſt
veredelt, bloß eine endliche Groͤße, mithin ein unwuͤrdiges
Objekt fuͤr die Dichtkunſt, die erhaben uͤber alles, was
die Wirklichkeit aufſtellt, nur das Recht hat, um das Un-
endliche zu trauern.
Der Inhalt der dichteriſchen Klage kann alſo niemals
ein aͤußrer, jederzeit nur ein innerer idealiſcher Gegen-
ſtand ſeyn; ſelbſt wenn ſie einen Verluſt in der Wirklichkeit
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