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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

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wenn man ihm jene individuelle Wahrheit und Lebendig-
keit, womit der naive Dichter seinen Gegenstand schil-
dert, überhaupt absprechen wollte. Viele seiner Oden,
mehrere einzelne Züge in seinen Dramen und in seinem
Messias stellen den Gegenstand mit treffender Wahrheit
und in schöner Umgrenzung dar; da besonders, wo der
Gegenstand sein eigenes Herz ist, hat er nicht selten eine
große Natur, eine reitzende Naivetät bewiesen. Nur
liegt hierinn seine Stärke nicht, nur möchte sich diese
Eigenschaft nicht durch das Ganze seines dichterischen
Kreises durchführen lassen. So eine herrliche Schöpfung
die Messiade in musikalisch poetischer Rücksicht, nach
der oben gegebenen Bestimmung, ist, so vieles läßt sie
in plastisch poetischer noch zu wünschen übrig, wo
man bestimmte und für die Anschauung bestimmte
Formen erwartet. Bestimmt genug möchten vielleicht

wandtschaft der Poesie mit der Tonkunst und mit der bil-
denden Kunst zu erinnern. Je nachdem nehmlich die Poesie
entweder einen bestimmten Gegenstand nachahmt, wie
die bildenden Künste thun, oder je nachdem sie, wie die Ton-
kunst, bloß einen bestimmten Zustand des Gemüths
hervorbringt, ohne dazu eines bestimmten Gegenstandes nö-
thig zu haben, kann sie bildend (plastisch) oder musika-
lisch genannt werden. Der letztere Ausdruck bezieht sich
also nicht bloß auf dasjenige, was in der Poesie, wirklich
und der Materie nach, Musik ist, sondern überhaupt auf
alle diejenigen Effekte derselben, die sie hervorzubringen ver-
mag, ohne die Einbildungskraft durch ein bestimmtes Objekt
zu beschränken; und in diesem Sinne nenne ich Klopstock
vorzugsweise einen musikalischen Dichter.

wenn man ihm jene individuelle Wahrheit und Lebendig-
keit, womit der naive Dichter ſeinen Gegenſtand ſchil-
dert, uͤberhaupt abſprechen wollte. Viele ſeiner Oden,
mehrere einzelne Zuͤge in ſeinen Dramen und in ſeinem
Meſſias ſtellen den Gegenſtand mit treffender Wahrheit
und in ſchoͤner Umgrenzung dar; da beſonders, wo der
Gegenſtand ſein eigenes Herz iſt, hat er nicht ſelten eine
große Natur, eine reitzende Naivetaͤt bewieſen. Nur
liegt hierinn ſeine Staͤrke nicht, nur moͤchte ſich dieſe
Eigenſchaft nicht durch das Ganze ſeines dichteriſchen
Kreiſes durchfuͤhren laſſen. So eine herrliche Schoͤpfung
die Meſſiade in muſikaliſch poetiſcher Ruͤckſicht, nach
der oben gegebenen Beſtimmung, iſt, ſo vieles laͤßt ſie
in plaſtiſch poetiſcher noch zu wuͤnſchen uͤbrig, wo
man beſtimmte und fuͤr die Anſchauung beſtimmte
Formen erwartet. Beſtimmt genug moͤchten vielleicht

wandtſchaft der Poeſie mit der Tonkunſt und mit der bil-
denden Kunſt zu erinnern. Je nachdem nehmlich die Poeſie
entweder einen beſtimmten Gegenſtand nachahmt, wie
die bildenden Kuͤnſte thun, oder je nachdem ſie, wie die Ton-
kunſt, bloß einen beſtimmten Zuſtand des Gemuͤths
hervorbringt, ohne dazu eines beſtimmten Gegenſtandes noͤ-
thig zu haben, kann ſie bildend (plaſtiſch) oder muſika-
liſch genannt werden. Der letztere Ausdruck bezieht ſich
alſo nicht bloß auf dasjenige, was in der Poeſie, wirklich
und der Materie nach, Muſik iſt, ſondern uͤberhaupt auf
alle diejenigen Effekte derſelben, die ſie hervorzubringen ver-
mag, ohne die Einbildungskraft durch ein beſtimmtes Objekt
zu beſchraͤnken; und in dieſem Sinne nenne ich Klopſtock
vorzugsweiſe einen muſikaliſchen Dichter.
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[31/0038] wenn man ihm jene individuelle Wahrheit und Lebendig- keit, womit der naive Dichter ſeinen Gegenſtand ſchil- dert, uͤberhaupt abſprechen wollte. Viele ſeiner Oden, mehrere einzelne Zuͤge in ſeinen Dramen und in ſeinem Meſſias ſtellen den Gegenſtand mit treffender Wahrheit und in ſchoͤner Umgrenzung dar; da beſonders, wo der Gegenſtand ſein eigenes Herz iſt, hat er nicht ſelten eine große Natur, eine reitzende Naivetaͤt bewieſen. Nur liegt hierinn ſeine Staͤrke nicht, nur moͤchte ſich dieſe Eigenſchaft nicht durch das Ganze ſeines dichteriſchen Kreiſes durchfuͤhren laſſen. So eine herrliche Schoͤpfung die Meſſiade in muſikaliſch poetiſcher Ruͤckſicht, nach der oben gegebenen Beſtimmung, iſt, ſo vieles laͤßt ſie in plaſtiſch poetiſcher noch zu wuͤnſchen uͤbrig, wo man beſtimmte und fuͤr die Anſchauung beſtimmte Formen erwartet. Beſtimmt genug moͤchten vielleicht * * wandtſchaft der Poeſie mit der Tonkunſt und mit der bil- denden Kunſt zu erinnern. Je nachdem nehmlich die Poeſie entweder einen beſtimmten Gegenſtand nachahmt, wie die bildenden Kuͤnſte thun, oder je nachdem ſie, wie die Ton- kunſt, bloß einen beſtimmten Zuſtand des Gemuͤths hervorbringt, ohne dazu eines beſtimmten Gegenſtandes noͤ- thig zu haben, kann ſie bildend (plaſtiſch) oder muſika- liſch genannt werden. Der letztere Ausdruck bezieht ſich alſo nicht bloß auf dasjenige, was in der Poeſie, wirklich und der Materie nach, Muſik iſt, ſondern uͤberhaupt auf alle diejenigen Effekte derſelben, die ſie hervorzubringen ver- mag, ohne die Einbildungskraft durch ein beſtimmtes Objekt zu beſchraͤnken; und in dieſem Sinne nenne ich Klopſtock vorzugsweiſe einen muſikaliſchen Dichter.

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/38>, abgerufen am 23.04.2024.