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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

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psychologische Entwicklung dieses auf vier so verschiedene
Arten specificierten Charakters zu versuchen.

Es ist oben bemerkt worden, daß die bloß leichte und
joviale Gemüthsart, wenn ihr nicht eine innere Ideen-
fülle zum Grund liegt, noch gar keinen Beruf zur scherz-
haften Satyre abgebe, so freygebig sie auch im gewöhn-
lichen Urtheil dafür genommen wird; eben so wenig Be-
ruf giebt die bloß zärtliche Weichmüthigkeit und Schwer-
muth zur elegischen Dichtung. Beyden fehlt zu dem wahren
Dichtertalente das energische Princip, welches den Stoff
beleben muß, um das wahrhaft schöne zu erzeugen. Pro-
dukte dieser zärtlichen Gattung können uns daher bloß
schmelzen und ohne das Herz zu erquicken und den Geist
zu beschäftigen, bloß der Sinnlichkeit schmeicheln. Ein
fortgesetzter Hang zu dieser Empfindungsweise muß zuletzt
nothwendig den Charakter entnerven und in einen Zustand
der Paßivität versenken, aus welchem gar keine Realität,
weder für das äußre noch innre Leben, hervorgehen kann.
Man hat daher sehr Recht gethan, jenes Uebel der Em-
pfindeley
* und weinerliche Wesen, welches durch
Mißdeutung und Nachäffung einiger vortreflichen Werke,
vor etwa achtzehn Jahren, in Deutschland überhand zu
nehmen anfieng, mit unerbittlichem Spott zu verfolgen;
obgleich die Nachgiebigkeit, die man gegen das nicht viel
beßere Gegenstück jener elegischen Karrikatur, gegen das

* "Der Hang, wie Herr Adelung sie definiert, zu rübrenden
sanften Empfindungen, ohne vernünftige Absicht
und über das gehörige Maaß" -- Herr Adelung ist sehr
glücklich, daß er nur aus Absicht und gar nur aus ver-
nünftiger Absicht empfindet.

pſychologiſche Entwicklung dieſes auf vier ſo verſchiedene
Arten ſpecificierten Charakters zu verſuchen.

Es iſt oben bemerkt worden, daß die bloß leichte und
joviale Gemuͤthsart, wenn ihr nicht eine innere Ideen-
fuͤlle zum Grund liegt, noch gar keinen Beruf zur ſcherz-
haften Satyre abgebe, ſo freygebig ſie auch im gewoͤhn-
lichen Urtheil dafuͤr genommen wird; eben ſo wenig Be-
ruf giebt die bloß zaͤrtliche Weichmuͤthigkeit und Schwer-
muth zur elegiſchen Dichtung. Beyden fehlt zu dem wahren
Dichtertalente das energiſche Princip, welches den Stoff
beleben muß, um das wahrhaft ſchoͤne zu erzeugen. Pro-
dukte dieſer zaͤrtlichen Gattung koͤnnen uns daher bloß
ſchmelzen und ohne das Herz zu erquicken und den Geiſt
zu beſchaͤftigen, bloß der Sinnlichkeit ſchmeicheln. Ein
fortgeſetzter Hang zu dieſer Empfindungsweiſe muß zuletzt
nothwendig den Charakter entnerven und in einen Zuſtand
der Paßivitaͤt verſenken, aus welchem gar keine Realitaͤt,
weder fuͤr das aͤußre noch innre Leben, hervorgehen kann.
Man hat daher ſehr Recht gethan, jenes Uebel der Em-
pfindeley
* und weinerliche Weſen, welches durch
Mißdeutung und Nachaͤffung einiger vortreflichen Werke,
vor etwa achtzehn Jahren, in Deutſchland uͤberhand zu
nehmen anfieng, mit unerbittlichem Spott zu verfolgen;
obgleich die Nachgiebigkeit, die man gegen das nicht viel
beßere Gegenſtuͤck jener elegiſchen Karrikatur, gegen das

* „Der Hang, wie Herr Adelung ſie definiert, zu ruͤbrenden
ſanften Empfindungen, ohne vernuͤnftige Abſicht
und uͤber das gehoͤrige Maaß“ — Herr Adelung iſt ſehr
gluͤcklich, daß er nur aus Abſicht und gar nur aus ver-
nuͤnftiger Abſicht empfindet.
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[37/0044] pſychologiſche Entwicklung dieſes auf vier ſo verſchiedene Arten ſpecificierten Charakters zu verſuchen. Es iſt oben bemerkt worden, daß die bloß leichte und joviale Gemuͤthsart, wenn ihr nicht eine innere Ideen- fuͤlle zum Grund liegt, noch gar keinen Beruf zur ſcherz- haften Satyre abgebe, ſo freygebig ſie auch im gewoͤhn- lichen Urtheil dafuͤr genommen wird; eben ſo wenig Be- ruf giebt die bloß zaͤrtliche Weichmuͤthigkeit und Schwer- muth zur elegiſchen Dichtung. Beyden fehlt zu dem wahren Dichtertalente das energiſche Princip, welches den Stoff beleben muß, um das wahrhaft ſchoͤne zu erzeugen. Pro- dukte dieſer zaͤrtlichen Gattung koͤnnen uns daher bloß ſchmelzen und ohne das Herz zu erquicken und den Geiſt zu beſchaͤftigen, bloß der Sinnlichkeit ſchmeicheln. Ein fortgeſetzter Hang zu dieſer Empfindungsweiſe muß zuletzt nothwendig den Charakter entnerven und in einen Zuſtand der Paßivitaͤt verſenken, aus welchem gar keine Realitaͤt, weder fuͤr das aͤußre noch innre Leben, hervorgehen kann. Man hat daher ſehr Recht gethan, jenes Uebel der Em- pfindeley * und weinerliche Weſen, welches durch Mißdeutung und Nachaͤffung einiger vortreflichen Werke, vor etwa achtzehn Jahren, in Deutſchland uͤberhand zu nehmen anfieng, mit unerbittlichem Spott zu verfolgen; obgleich die Nachgiebigkeit, die man gegen das nicht viel beßere Gegenſtuͤck jener elegiſchen Karrikatur, gegen das * „Der Hang, wie Herr Adelung ſie definiert, zu ruͤbrenden ſanften Empfindungen, ohne vernuͤnftige Abſicht und uͤber das gehoͤrige Maaß“ — Herr Adelung iſt ſehr gluͤcklich, daß er nur aus Abſicht und gar nur aus ver- nuͤnftiger Abſicht empfindet.

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/44>, abgerufen am 28.03.2024.