Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.te, seine Meisterstücke sogar nicht ausgenommen, so habe * Wenn ich den unsterblichen Verfasser des Agathon, Obe-
ron etc. in dieser Gesellschaft nenne, so muß ich ausdrücklich erklären, daß ich ihn keineswegs mit derselben verwechselt haben will. Seine Schilderungen, auch die bedenklichsten von dieser Seite, haben keine materielle Tendenz (wie sich ein neuerer etwas unbesonnener Critiker vor kurzem zu sagen erlaubte) der Verfasser von Liebe um Liebe und von so vie- len andern naiven und genialischen Werken, in welchen al- len sich eine schöne und edle Seele mit unverkennbaren Zü- gen abbildet, kann eine solche Tendenz gar nicht haben. Aber er scheint mir von dem ganz eigenen Unglück verfolgt zu te, ſeine Meiſterſtuͤcke ſogar nicht ausgenommen, ſo habe * Wenn ich den unſterblichen Verfaſſer des Agathon, Obe-
ron ꝛc. in dieſer Geſellſchaft nenne, ſo muß ich ausdruͤcklich erklaͤren, daß ich ihn keineswegs mit derſelben verwechſelt haben will. Seine Schilderungen, auch die bedenklichſten von dieſer Seite, haben keine materielle Tendenz (wie ſich ein neuerer etwas unbeſonnener Critiker vor kurzem zu ſagen erlaubte) der Verfaſſer von Liebe um Liebe und von ſo vie- len andern naiven und genialiſchen Werken, in welchen al- len ſich eine ſchoͤne und edle Seele mit unverkennbaren Zuͤ- gen abbildet, kann eine ſolche Tendenz gar nicht haben. Aber er ſcheint mir von dem ganz eigenen Ungluͤck verfolgt zu <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0051" n="44"/> te, ſeine Meiſterſtuͤcke ſogar nicht ausgenommen, ſo habe<lb/> ich nichts darauf zu antworten. Der Ausſpruch ſelbſt iſt<lb/> nichts weniger als neu, und ich gebe hier nur die Gruͤn-<lb/> de von einem Urtheil an, welches laͤngſt ſchon von jedem<lb/> feineren Gefuͤhle uͤber dieſe Gegenſtaͤnde gefaͤllt worden iſt.<lb/> Eben dieſe Principien aber, welche in Ruͤckſicht auf jene<lb/> Schriften vielleicht allzu rigoriſtiſch ſcheinen, moͤchten in<lb/> Ruͤckſicht auf einige andere Werke vielleicht zu liberal be-<lb/> funden werden; denn ich laͤugne nicht, daß die nehmli-<lb/> chen Gruͤnde, aus welchen ich die verfuͤhreriſchen Ge-<lb/> maͤhlde des <hi rendition="#g">roͤmiſchen</hi> und <hi rendition="#g">deutſchen Ovid</hi>, ſo<lb/> wie eines <hi rendition="#g">Crebillon, Voltaire, Marmontels</hi><lb/> (der ſich einen moraliſchen Erzaͤhler nennt) <hi rendition="#g">Laclos</hi> und<lb/> vieler andern, einer Entſchuldigung durchaus fuͤr unfaͤ-<lb/> hig halte, mich mit den Elegien des <hi rendition="#g">roͤmiſchen</hi> und<lb/><hi rendition="#g">deutſchen Properz</hi>, ja ſelbſt mit manchem verſchrie-<lb/> nen Produkt des <hi rendition="#g">Diderot</hi> verſoͤhnen; denn jene ſind<lb/> nur witzig, nur proſaiſch, nur luͤſtern, dieſe ſind poetiſch,<lb/> menſchlich und naiv. <note xml:id="seg2pn_5_1" next="#seg2pn_5_2" place="foot" n="*">Wenn ich den unſterblichen Verfaſſer des Agathon, Obe-<lb/> ron ꝛc. in dieſer Geſellſchaft nenne, ſo muß ich ausdruͤcklich<lb/> erklaͤren, daß ich ihn keineswegs mit derſelben verwechſelt<lb/> haben will. Seine Schilderungen, auch die bedenklichſten<lb/> von dieſer Seite, haben keine materielle Tendenz (wie ſich<lb/> ein neuerer etwas unbeſonnener Critiker vor kurzem zu ſagen<lb/> erlaubte) der Verfaſſer von Liebe um Liebe und von ſo vie-<lb/> len andern naiven und genialiſchen Werken, in welchen al-<lb/> len ſich eine ſchoͤne und edle Seele mit unverkennbaren Zuͤ-<lb/> gen abbildet, kann eine ſolche Tendenz gar nicht haben. Aber<lb/> er ſcheint mir von dem ganz eigenen Ungluͤck verfolgt zu</note></p> </div><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [44/0051]
te, ſeine Meiſterſtuͤcke ſogar nicht ausgenommen, ſo habe
ich nichts darauf zu antworten. Der Ausſpruch ſelbſt iſt
nichts weniger als neu, und ich gebe hier nur die Gruͤn-
de von einem Urtheil an, welches laͤngſt ſchon von jedem
feineren Gefuͤhle uͤber dieſe Gegenſtaͤnde gefaͤllt worden iſt.
Eben dieſe Principien aber, welche in Ruͤckſicht auf jene
Schriften vielleicht allzu rigoriſtiſch ſcheinen, moͤchten in
Ruͤckſicht auf einige andere Werke vielleicht zu liberal be-
funden werden; denn ich laͤugne nicht, daß die nehmli-
chen Gruͤnde, aus welchen ich die verfuͤhreriſchen Ge-
maͤhlde des roͤmiſchen und deutſchen Ovid, ſo
wie eines Crebillon, Voltaire, Marmontels
(der ſich einen moraliſchen Erzaͤhler nennt) Laclos und
vieler andern, einer Entſchuldigung durchaus fuͤr unfaͤ-
hig halte, mich mit den Elegien des roͤmiſchen und
deutſchen Properz, ja ſelbſt mit manchem verſchrie-
nen Produkt des Diderot verſoͤhnen; denn jene ſind
nur witzig, nur proſaiſch, nur luͤſtern, dieſe ſind poetiſch,
menſchlich und naiv. *
* Wenn ich den unſterblichen Verfaſſer des Agathon, Obe-
ron ꝛc. in dieſer Geſellſchaft nenne, ſo muß ich ausdruͤcklich
erklaͤren, daß ich ihn keineswegs mit derſelben verwechſelt
haben will. Seine Schilderungen, auch die bedenklichſten
von dieſer Seite, haben keine materielle Tendenz (wie ſich
ein neuerer etwas unbeſonnener Critiker vor kurzem zu ſagen
erlaubte) der Verfaſſer von Liebe um Liebe und von ſo vie-
len andern naiven und genialiſchen Werken, in welchen al-
len ſich eine ſchoͤne und edle Seele mit unverkennbaren Zuͤ-
gen abbildet, kann eine ſolche Tendenz gar nicht haben. Aber
er ſcheint mir von dem ganz eigenen Ungluͤck verfolgt zu
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