Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

Bild:
<< vorherige Seite

Weil diese Unschuld und dieses Glück mit den künstlichen
Verhältnissen der größern Societät und mit einem gewis-
sen Grad von Ausbildung und Verfeinerung unverträglich
schienen, so haben die Dichter den Schauplatz der Idylle
aus dem Gedränge des bürgerlichen Lebens heraus in den
einfachen Hirtenstand verlegt, und derselben ihre Stelle
vor dem Anfange der Kultur in dem kindlichen Al-
ter der Menschheit angewiesen. Man begreift aber wohl,
daß diese Bestimmungen bloß zufällig sind, daß sie nicht
als der Zweck der Idylle, bloß als das natürlichste Mit-
tel zu demselben in Betrachtung kommen. Der Zweck selbst
ist überall nur der, den Menschen im Stand der Unschuld,
d. h. in einem Zustand der Harmonie und des Friedens
mit sich selbst und von aussen darzustellen.

Aber ein solcher Zustand findet nicht bloß vor dem
Anfange der Kultur statt, sondern er ist es auch, den die
Kultur, wenn sie überal nur eine bestimmte Tendenz ha-
ben soll, als ihr letztes Ziel beabsichtet. Die Idee dieses
Zustandes allein und der Glaube an die mögliche Realität
derselben kann den Menschen mit allen den Uebeln versöh-
nen, denen er auf dem Wege der Kultur unterworfen ist,
und wäre sie bloß Schimäre, so würden die Klagen derer,

einige Rücksicht muß genommen werden. Der sentimentali-
sche Dichter geht in zu wesentlichen Stücken von dem naiven
ab, als daß ihm die Formen, welche dieser eingeführt, über-
al ungezwungen anpassen könnten. Freilich ist es hier schwer,
die Ausnahmen, welche die Verschiedenheit der Art erfodert,
von den Ausflüchten, welche das Unvermögen sich erlaubt,
immer richtig zu unterscheiden, aber soviel lehrt doch die Er-
fahrung, daß unter den Händen sentimentalischer Dichter
(auch der vorzüglichsten) keine einzige Gedichtart ganz das
geblieben ist, was sie bey den Alten gewesen, und daß unter
den alten Nahmen öfters sehr neue Gattungen sind ausge-
führt worden.

Weil dieſe Unſchuld und dieſes Gluͤck mit den kuͤnſtlichen
Verhaͤltniſſen der groͤßern Societaͤt und mit einem gewiſ-
ſen Grad von Ausbildung und Verfeinerung unvertraͤglich
ſchienen, ſo haben die Dichter den Schauplatz der Idylle
aus dem Gedraͤnge des buͤrgerlichen Lebens heraus in den
einfachen Hirtenſtand verlegt, und derſelben ihre Stelle
vor dem Anfange der Kultur in dem kindlichen Al-
ter der Menſchheit angewieſen. Man begreift aber wohl,
daß dieſe Beſtimmungen bloß zufaͤllig ſind, daß ſie nicht
als der Zweck der Idylle, bloß als das natuͤrlichſte Mit-
tel zu demſelben in Betrachtung kommen. Der Zweck ſelbſt
iſt uͤberall nur der, den Menſchen im Stand der Unſchuld,
d. h. in einem Zuſtand der Harmonie und des Friedens
mit ſich ſelbſt und von auſſen darzuſtellen.

Aber ein ſolcher Zuſtand findet nicht bloß vor dem
Anfange der Kultur ſtatt, ſondern er iſt es auch, den die
Kultur, wenn ſie uͤberal nur eine beſtimmte Tendenz ha-
ben ſoll, als ihr letztes Ziel beabſichtet. Die Idee dieſes
Zuſtandes allein und der Glaube an die moͤgliche Realitaͤt
derſelben kann den Menſchen mit allen den Uebeln verſoͤh-
nen, denen er auf dem Wege der Kultur unterworfen iſt,
und waͤre ſie bloß Schimaͤre, ſo wuͤrden die Klagen derer,

einige Ruͤckſicht muß genommen werden. Der ſentimentali-
ſche Dichter geht in zu weſentlichen Stuͤcken von dem naiven
ab, als daß ihm die Formen, welche dieſer eingefuͤhrt, uͤber-
al ungezwungen anpaſſen koͤnnten. Freilich iſt es hier ſchwer,
die Ausnahmen, welche die Verſchiedenheit der Art erfodert,
von den Ausfluͤchten, welche das Unvermoͤgen ſich erlaubt,
immer richtig zu unterſcheiden, aber ſoviel lehrt doch die Er-
fahrung, daß unter den Haͤnden ſentimentaliſcher Dichter
(auch der vorzuͤglichſten) keine einzige Gedichtart ganz das
geblieben iſt, was ſie bey den Alten geweſen, und daß unter
den alten Nahmen oͤfters ſehr neue Gattungen ſind ausge-
fuͤhrt worden.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0054" n="47"/>
Weil die&#x017F;e Un&#x017F;chuld und die&#x017F;es Glu&#x0364;ck mit den ku&#x0364;n&#x017F;tlichen<lb/>
Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en der gro&#x0364;ßern Societa&#x0364;t und mit einem gewi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en Grad von Ausbildung und Verfeinerung unvertra&#x0364;glich<lb/>
&#x017F;chienen, &#x017F;o haben die Dichter den Schauplatz der Idylle<lb/>
aus dem Gedra&#x0364;nge des bu&#x0364;rgerlichen Lebens heraus in den<lb/>
einfachen Hirten&#x017F;tand verlegt, und der&#x017F;elben ihre Stelle<lb/><hi rendition="#g">vor dem Anfange der Kultur</hi> in dem kindlichen Al-<lb/>
ter der Men&#x017F;chheit angewie&#x017F;en. Man begreift aber wohl,<lb/>
daß die&#x017F;e Be&#x017F;timmungen bloß zufa&#x0364;llig &#x017F;ind, daß &#x017F;ie nicht<lb/>
als der Zweck der Idylle, bloß als das natu&#x0364;rlich&#x017F;te Mit-<lb/>
tel zu dem&#x017F;elben in Betrachtung kommen. Der Zweck &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
i&#x017F;t u&#x0364;berall nur der, den Men&#x017F;chen im Stand der Un&#x017F;chuld,<lb/>
d. h. in einem Zu&#x017F;tand der Harmonie und des Friedens<lb/>
mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t und von au&#x017F;&#x017F;en darzu&#x017F;tellen.</p><lb/>
          <p>Aber ein &#x017F;olcher Zu&#x017F;tand findet nicht bloß vor dem<lb/>
Anfange der Kultur &#x017F;tatt, &#x017F;ondern er i&#x017F;t es auch, den die<lb/>
Kultur, wenn &#x017F;ie u&#x0364;beral nur eine be&#x017F;timmte Tendenz ha-<lb/>
ben &#x017F;oll, als ihr letztes Ziel beab&#x017F;ichtet. Die Idee die&#x017F;es<lb/>
Zu&#x017F;tandes allein und der Glaube an die mo&#x0364;gliche Realita&#x0364;t<lb/>
der&#x017F;elben kann den Men&#x017F;chen mit allen den Uebeln ver&#x017F;o&#x0364;h-<lb/>
nen, denen er auf dem Wege der Kultur unterworfen i&#x017F;t,<lb/>
und wa&#x0364;re &#x017F;ie bloß Schima&#x0364;re, &#x017F;o wu&#x0364;rden die Klagen derer,<lb/><note xml:id="seg2pn_6_3" prev="#seg2pn_6_2" place="foot" n="*">einige Ru&#x0364;ck&#x017F;icht muß genommen werden. Der &#x017F;entimentali-<lb/>
&#x017F;che Dichter geht in zu we&#x017F;entlichen Stu&#x0364;cken von dem naiven<lb/>
ab, als daß ihm die Formen, welche die&#x017F;er eingefu&#x0364;hrt, u&#x0364;ber-<lb/>
al ungezwungen anpa&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nnten. Freilich i&#x017F;t es hier &#x017F;chwer,<lb/>
die Ausnahmen, welche die Ver&#x017F;chiedenheit der Art erfodert,<lb/>
von den Ausflu&#x0364;chten, welche das Unvermo&#x0364;gen &#x017F;ich erlaubt,<lb/>
immer richtig zu unter&#x017F;cheiden, aber &#x017F;oviel lehrt doch die Er-<lb/>
fahrung, daß unter den Ha&#x0364;nden &#x017F;entimentali&#x017F;cher Dichter<lb/>
(auch der vorzu&#x0364;glich&#x017F;ten) keine einzige Gedichtart ganz das<lb/>
geblieben i&#x017F;t, was &#x017F;ie bey den Alten gewe&#x017F;en, und daß unter<lb/>
den alten Nahmen o&#x0364;fters &#x017F;ehr neue Gattungen &#x017F;ind ausge-<lb/>
fu&#x0364;hrt worden.</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[47/0054] Weil dieſe Unſchuld und dieſes Gluͤck mit den kuͤnſtlichen Verhaͤltniſſen der groͤßern Societaͤt und mit einem gewiſ- ſen Grad von Ausbildung und Verfeinerung unvertraͤglich ſchienen, ſo haben die Dichter den Schauplatz der Idylle aus dem Gedraͤnge des buͤrgerlichen Lebens heraus in den einfachen Hirtenſtand verlegt, und derſelben ihre Stelle vor dem Anfange der Kultur in dem kindlichen Al- ter der Menſchheit angewieſen. Man begreift aber wohl, daß dieſe Beſtimmungen bloß zufaͤllig ſind, daß ſie nicht als der Zweck der Idylle, bloß als das natuͤrlichſte Mit- tel zu demſelben in Betrachtung kommen. Der Zweck ſelbſt iſt uͤberall nur der, den Menſchen im Stand der Unſchuld, d. h. in einem Zuſtand der Harmonie und des Friedens mit ſich ſelbſt und von auſſen darzuſtellen. Aber ein ſolcher Zuſtand findet nicht bloß vor dem Anfange der Kultur ſtatt, ſondern er iſt es auch, den die Kultur, wenn ſie uͤberal nur eine beſtimmte Tendenz ha- ben ſoll, als ihr letztes Ziel beabſichtet. Die Idee dieſes Zuſtandes allein und der Glaube an die moͤgliche Realitaͤt derſelben kann den Menſchen mit allen den Uebeln verſoͤh- nen, denen er auf dem Wege der Kultur unterworfen iſt, und waͤre ſie bloß Schimaͤre, ſo wuͤrden die Klagen derer, * * einige Ruͤckſicht muß genommen werden. Der ſentimentali- ſche Dichter geht in zu weſentlichen Stuͤcken von dem naiven ab, als daß ihm die Formen, welche dieſer eingefuͤhrt, uͤber- al ungezwungen anpaſſen koͤnnten. Freilich iſt es hier ſchwer, die Ausnahmen, welche die Verſchiedenheit der Art erfodert, von den Ausfluͤchten, welche das Unvermoͤgen ſich erlaubt, immer richtig zu unterſcheiden, aber ſoviel lehrt doch die Er- fahrung, daß unter den Haͤnden ſentimentaliſcher Dichter (auch der vorzuͤglichſten) keine einzige Gedichtart ganz das geblieben iſt, was ſie bey den Alten geweſen, und daß unter den alten Nahmen oͤfters ſehr neue Gattungen ſind ausge- fuͤhrt worden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/54
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/54>, abgerufen am 24.11.2024.