Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.sie unendlich, aber er klagt immer, daß sie überall auf halbem Wege stehn geblieben wären. Die Frauen werden in der Poesie eben so ungerecht behandelt, wie im Leben. Die weiblichen sind nicht idealisch, und die idealischen sind nicht weiblich. Wahre Liebe sollte ihrem Ursprunge nach, zugleich ganz willkührlich und ganz zufällig seyn, und zugleich nothwendig und frey scheinen; ihrem Charakter nach aber zugleich Bestimmung und Tugend seyn, ein Geheimniß, und ein Wunder scheinen. Naiv ist, was bis zur Jronie, oder bis zum steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung natürlich, individuell oder klassisch ist, oder scheint. Jst es bloß Jnstinkt, so ists kindlich, kindisch, oder albern; ists bloß Absicht, so entsteht Affektazion. Das schöne, poetische, idealische Naive muß zugleich Absicht, und Jnstinkt seyn. Das Wesen der Absicht in diesem Sinne ist die Freyheit. Bewußtseyn ist noch bey weitem nicht Absicht. Es giebt ein gewisses verliebtes Anschauen eigner Natürlichkeit oder Albernheit, das selbst unsäglich albern ist. Absicht erfordert nicht gerade einen tiefen Calcul oder Plan. Auch das Homerische Naive ist nicht bloß Jnstinkt: es ist wenigstens so viel Absicht darin, wie in der Anmuth lieblicher Kinder, oder unschuldiger Mädchen. Wenn sie unendlich, aber er klagt immer, daß sie uͤberall auf halbem Wege stehn geblieben waͤren. Die Frauen werden in der Poesie eben so ungerecht behandelt, wie im Leben. Die weiblichen sind nicht idealisch, und die idealischen sind nicht weiblich. Wahre Liebe sollte ihrem Ursprunge nach, zugleich ganz willkuͤhrlich und ganz zufaͤllig seyn, und zugleich nothwendig und frey scheinen; ihrem Charakter nach aber zugleich Bestimmung und Tugend seyn, ein Geheimniß, und ein Wunder scheinen. Naiv ist, was bis zur Jronie, oder bis zum steten Wechsel von Selbstschoͤpfung und Selbstvernichtung natuͤrlich, individuell oder klassisch ist, oder scheint. Jst es bloß Jnstinkt, so ists kindlich, kindisch, oder albern; ists bloß Absicht, so entsteht Affektazion. Das schoͤne, poetische, idealische Naive muß zugleich Absicht, und Jnstinkt seyn. Das Wesen der Absicht in diesem Sinne ist die Freyheit. Bewußtseyn ist noch bey weitem nicht Absicht. Es giebt ein gewisses verliebtes Anschauen eigner Natuͤrlichkeit oder Albernheit, das selbst unsaͤglich albern ist. Absicht erfordert nicht gerade einen tiefen Calcul oder Plan. Auch das Homerische Naive ist nicht bloß Jnstinkt: es ist wenigstens so viel Absicht darin, wie in der Anmuth lieblicher Kinder, oder unschuldiger Maͤdchen. Wenn <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0203" n="14"/> sie unendlich, aber er klagt immer, daß sie uͤberall auf halbem Wege stehn geblieben waͤren.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Die Frauen werden in der Poesie eben so ungerecht behandelt, wie im Leben. Die weiblichen sind nicht idealisch, und die idealischen sind nicht weiblich.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Wahre Liebe sollte ihrem Ursprunge nach, zugleich ganz willkuͤhrlich und ganz zufaͤllig seyn, und zugleich nothwendig und frey scheinen; ihrem Charakter nach aber zugleich Bestimmung und Tugend seyn, ein Geheimniß, und ein Wunder scheinen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Naiv ist, was bis zur Jronie, oder bis zum steten Wechsel von Selbstschoͤpfung und Selbstvernichtung natuͤrlich, individuell oder klassisch ist, oder scheint. Jst es bloß Jnstinkt, so ists kindlich, kindisch, oder albern; ists bloß Absicht, so entsteht Affektazion. Das schoͤne, poetische, idealische Naive muß zugleich Absicht, und Jnstinkt seyn. Das Wesen der Absicht in diesem Sinne ist die Freyheit. Bewußtseyn ist noch bey weitem nicht Absicht. Es giebt ein gewisses verliebtes Anschauen eigner Natuͤrlichkeit oder Albernheit, das selbst unsaͤglich albern ist. Absicht erfordert nicht gerade einen tiefen Calcul oder Plan. Auch das Homerische Naive ist nicht bloß Jnstinkt: es ist wenigstens so viel Absicht darin, wie in der Anmuth lieblicher Kinder, oder unschuldiger Maͤdchen. Wenn<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [14/0203]
sie unendlich, aber er klagt immer, daß sie uͤberall auf halbem Wege stehn geblieben waͤren.
Die Frauen werden in der Poesie eben so ungerecht behandelt, wie im Leben. Die weiblichen sind nicht idealisch, und die idealischen sind nicht weiblich.
Wahre Liebe sollte ihrem Ursprunge nach, zugleich ganz willkuͤhrlich und ganz zufaͤllig seyn, und zugleich nothwendig und frey scheinen; ihrem Charakter nach aber zugleich Bestimmung und Tugend seyn, ein Geheimniß, und ein Wunder scheinen.
Naiv ist, was bis zur Jronie, oder bis zum steten Wechsel von Selbstschoͤpfung und Selbstvernichtung natuͤrlich, individuell oder klassisch ist, oder scheint. Jst es bloß Jnstinkt, so ists kindlich, kindisch, oder albern; ists bloß Absicht, so entsteht Affektazion. Das schoͤne, poetische, idealische Naive muß zugleich Absicht, und Jnstinkt seyn. Das Wesen der Absicht in diesem Sinne ist die Freyheit. Bewußtseyn ist noch bey weitem nicht Absicht. Es giebt ein gewisses verliebtes Anschauen eigner Natuͤrlichkeit oder Albernheit, das selbst unsaͤglich albern ist. Absicht erfordert nicht gerade einen tiefen Calcul oder Plan. Auch das Homerische Naive ist nicht bloß Jnstinkt: es ist wenigstens so viel Absicht darin, wie in der Anmuth lieblicher Kinder, oder unschuldiger Maͤdchen. Wenn
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