Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.Deutscher. "Der Homerische Hexameter ist wenigstens der vorzüglichste unter allen." Grieche. Jnsofern der Hexameter damals die natürliche Blüthe der Sprache war, konnte kein Späterer diese leichte Fülle wieder erreichen, auch bey dem größten Aufwande von Feinheiten der Kunst, welche Homer noch nicht kannte. Deutscher. "Und dennoch ist an Homers Versbau noch viel zu tadeln. Er übt oft Sylbenzwang aus." Grieche. Etwas ganz eignes, daß jemand, der einen Sänger nie gehört hat, ihn nach drey Jahrtausenden hören lehren will. Klopstock hat den Homer fleißig gelesen; aber Homer, weißt du, bestimmte seine Rhapsodien eben nicht für den Druck. -- Wissen wir, wie sehr sich die Aussprache des Griechischen in dem, zwischen der Entstehung der Homerischen Gesänge und ihrer Aufzeichnung verflossenen, Zeitraume verändert hat? Vermuthlich hatte zu jener ersten Zeit der Akzent noch einen Einfluß auf die Länge, den er nachher verlohr. Endlich mußte in einem Zeitalter, wo die schriftliche Bezeichnung noch gar nicht, oder sehr wenig in Gebrauch war, das Ohr ohne alle Regeln über die Sylbenmessung entscheiden: und man wundert sich, daß es auch bey der größten Zartheit nicht immer mit grammatischer Genauigkeit entschied? Es fehlt so viel, daß "die andern Dichter auch in der Beobachtung der Sylbenzeit unter Homeren" gewesen wären, daß man vielmehr viele Freyheiten ganz allein bey ihm findet. Deutscher. „Der Homerische Hexameter ist wenigstens der vorzuͤglichste unter allen.“ Grieche. Jnsofern der Hexameter damals die natuͤrliche Bluͤthe der Sprache war, konnte kein Spaͤterer diese leichte Fuͤlle wieder erreichen, auch bey dem groͤßten Aufwande von Feinheiten der Kunst, welche Homer noch nicht kannte. Deutscher. „Und dennoch ist an Homers Versbau noch viel zu tadeln. Er uͤbt oft Sylbenzwang aus.“ Grieche. Etwas ganz eignes, daß jemand, der einen Saͤnger nie gehoͤrt hat, ihn nach drey Jahrtausenden hoͤren lehren will. Klopstock hat den Homer fleißig gelesen; aber Homer, weißt du, bestimmte seine Rhapsodien eben nicht fuͤr den Druck. — Wissen wir, wie sehr sich die Aussprache des Griechischen in dem, zwischen der Entstehung der Homerischen Gesaͤnge und ihrer Aufzeichnung verflossenen, Zeitraume veraͤndert hat? Vermuthlich hatte zu jener ersten Zeit der Akzent noch einen Einfluß auf die Laͤnge, den er nachher verlohr. Endlich mußte in einem Zeitalter, wo die schriftliche Bezeichnung noch gar nicht, oder sehr wenig in Gebrauch war, das Ohr ohne alle Regeln uͤber die Sylbenmessung entscheiden: und man wundert sich, daß es auch bey der groͤßten Zartheit nicht immer mit grammatischer Genauigkeit entschied? Es fehlt so viel, daß „die andern Dichter auch in der Beobachtung der Sylbenzeit unter Homeren“ gewesen waͤren, daß man vielmehr viele Freyheiten ganz allein bey ihm findet. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0053" n="42"/> <p><hi rendition="#g">Deutscher</hi>. „Der Homerische Hexameter ist wenigstens der vorzuͤglichste unter allen.“</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Grieche</hi>. Jnsofern der Hexameter damals die natuͤrliche Bluͤthe der Sprache war, konnte kein Spaͤterer diese leichte Fuͤlle wieder erreichen, auch bey dem groͤßten Aufwande von Feinheiten der Kunst, welche Homer noch nicht kannte.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Deutscher</hi>. „Und dennoch ist an Homers Versbau noch viel zu tadeln. Er uͤbt oft Sylbenzwang aus.“</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Grieche</hi>. Etwas ganz eignes, daß jemand, der einen Saͤnger nie gehoͤrt hat, ihn nach drey Jahrtausenden hoͤren lehren will. Klopstock hat den Homer fleißig gelesen; aber Homer, weißt du, bestimmte seine Rhapsodien eben nicht fuͤr den Druck. — Wissen wir, wie sehr sich die Aussprache des Griechischen in dem, zwischen der Entstehung der Homerischen Gesaͤnge und ihrer Aufzeichnung verflossenen, Zeitraume veraͤndert hat? Vermuthlich hatte zu jener ersten Zeit der Akzent noch einen Einfluß auf die Laͤnge, den er nachher verlohr. Endlich mußte in einem Zeitalter, wo die schriftliche Bezeichnung noch gar nicht, oder sehr wenig in Gebrauch war, das Ohr ohne alle Regeln uͤber die Sylbenmessung entscheiden: und man wundert sich, daß es auch bey der groͤßten Zartheit nicht immer mit grammatischer Genauigkeit entschied? Es fehlt so viel, daß „die andern Dichter auch in der Beobachtung der Sylbenzeit unter Homeren“ gewesen waͤren, daß man vielmehr viele Freyheiten ganz allein bey ihm findet.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [42/0053]
Deutscher. „Der Homerische Hexameter ist wenigstens der vorzuͤglichste unter allen.“
Grieche. Jnsofern der Hexameter damals die natuͤrliche Bluͤthe der Sprache war, konnte kein Spaͤterer diese leichte Fuͤlle wieder erreichen, auch bey dem groͤßten Aufwande von Feinheiten der Kunst, welche Homer noch nicht kannte.
Deutscher. „Und dennoch ist an Homers Versbau noch viel zu tadeln. Er uͤbt oft Sylbenzwang aus.“
Grieche. Etwas ganz eignes, daß jemand, der einen Saͤnger nie gehoͤrt hat, ihn nach drey Jahrtausenden hoͤren lehren will. Klopstock hat den Homer fleißig gelesen; aber Homer, weißt du, bestimmte seine Rhapsodien eben nicht fuͤr den Druck. — Wissen wir, wie sehr sich die Aussprache des Griechischen in dem, zwischen der Entstehung der Homerischen Gesaͤnge und ihrer Aufzeichnung verflossenen, Zeitraume veraͤndert hat? Vermuthlich hatte zu jener ersten Zeit der Akzent noch einen Einfluß auf die Laͤnge, den er nachher verlohr. Endlich mußte in einem Zeitalter, wo die schriftliche Bezeichnung noch gar nicht, oder sehr wenig in Gebrauch war, das Ohr ohne alle Regeln uͤber die Sylbenmessung entscheiden: und man wundert sich, daß es auch bey der groͤßten Zartheit nicht immer mit grammatischer Genauigkeit entschied? Es fehlt so viel, daß „die andern Dichter auch in der Beobachtung der Sylbenzeit unter Homeren“ gewesen waͤren, daß man vielmehr viele Freyheiten ganz allein bey ihm findet.
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