Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.und Seele der Menschheit. Da es aber kaum möglich seyn dürfte, beyde gleich sehr zu lieben, so wirst Du nun wie Herkules, oder Wilhelm Meister, am Scheidewege stehen, und zweifeln, welcher Muse Du den Preis geben und folgen sollst. Laß uns von der Poesie anfangen. Mir scheint, sie ist Dir entweder etwas ganz anders als Poesie, oder nicht Poesie genug. Jch will sagen, Du behandelst sie entweder gradezu wie Philosophie, und hältst Dich nur an die göttlichen Gedanken, oder brauchst sie wie Musik, blos als schöne Umgebung und Ergänzung des Lebens. Freylich ist es Dir auch Ernst mit der Poesie, und in den zwey oder drey großen Dichtern, den einzigen die Du eigentlich liesest, und immer wieder liesest, suchst Du unendlich viel, vorzüglich aber das Höchste, eine würdige treffende Darstellung der schönsten Menschheit und Liebe. Wo die Darstellung so tief und so wahr ist, hast Du leicht Anlaß uud Reiz finden können, diese oder jene Dichtung in Dir von neuem zu dichten und ihr einen göttlichern Sinn zu leihen. Aber schaue im Geiste auf Dich selbst, Dein inneres Leben und Lieben, erinnere Dich an alles Große was Du sahst, vertiefe Dich in Gedanken in das Heiligthum der Besten die Du kennst, und entscheide dann, ob die Dichter die Wirklichkeit übertreffen, wie sie sich immer rühmen. Mir hat sich sehr oft die Bemerkung aufgedrungen, daß die Poesie das höchste Wirkliche durchaus nicht erreiche, und ich wunderte mich dann, überall das Gegentheil zu hören, bis ich einsah, daß es wohl ein bloßer Wortstreit seyn und Seele der Menschheit. Da es aber kaum moͤglich seyn duͤrfte, beyde gleich sehr zu lieben, so wirst Du nun wie Herkules, oder Wilhelm Meister, am Scheidewege stehen, und zweifeln, welcher Muse Du den Preis geben und folgen sollst. Laß uns von der Poesie anfangen. Mir scheint, sie ist Dir entweder etwas ganz anders als Poesie, oder nicht Poesie genug. Jch will sagen, Du behandelst sie entweder gradezu wie Philosophie, und haͤltst Dich nur an die goͤttlichen Gedanken, oder brauchst sie wie Musik, blos als schoͤne Umgebung und Ergaͤnzung des Lebens. Freylich ist es Dir auch Ernst mit der Poesie, und in den zwey oder drey großen Dichtern, den einzigen die Du eigentlich liesest, und immer wieder liesest, suchst Du unendlich viel, vorzuͤglich aber das Hoͤchste, eine wuͤrdige treffende Darstellung der schoͤnsten Menschheit und Liebe. Wo die Darstellung so tief und so wahr ist, hast Du leicht Anlaß uud Reiz finden koͤnnen, diese oder jene Dichtung in Dir von neuem zu dichten und ihr einen goͤttlichern Sinn zu leihen. Aber schaue im Geiste auf Dich selbst, Dein inneres Leben und Lieben, erinnere Dich an alles Große was Du sahst, vertiefe Dich in Gedanken in das Heiligthum der Besten die Du kennst, und entscheide dann, ob die Dichter die Wirklichkeit uͤbertreffen, wie sie sich immer ruͤhmen. Mir hat sich sehr oft die Bemerkung aufgedrungen, daß die Poesie das hoͤchste Wirkliche durchaus nicht erreiche, und ich wunderte mich dann, uͤberall das Gegentheil zu hoͤren, bis ich einsah, daß es wohl ein bloßer Wortstreit seyn <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0027" n="19"/> und Seele der Menschheit. Da es aber kaum moͤglich seyn duͤrfte, beyde gleich sehr zu lieben, so wirst Du nun wie Herkules, oder Wilhelm Meister, am Scheidewege stehen, und zweifeln, welcher Muse Du den Preis geben und folgen sollst.</p><lb/> <p>Laß uns von der <hi rendition="#g">Poesie</hi> anfangen. Mir scheint, sie ist Dir entweder etwas ganz anders als Poesie, oder nicht Poesie genug. Jch will sagen, Du behandelst sie entweder gradezu wie Philosophie, und haͤltst Dich nur an die goͤttlichen Gedanken, oder brauchst sie wie Musik, blos als schoͤne Umgebung und Ergaͤnzung des Lebens. Freylich ist es Dir auch Ernst mit der Poesie, und in den zwey oder drey großen Dichtern, den einzigen die Du eigentlich liesest, und immer wieder liesest, suchst Du unendlich viel, vorzuͤglich aber das Hoͤchste, eine wuͤrdige treffende Darstellung der schoͤnsten Menschheit und Liebe. Wo die Darstellung so tief und so wahr ist, hast Du leicht Anlaß uud Reiz finden koͤnnen, diese oder jene Dichtung in Dir von neuem zu dichten und ihr einen goͤttlichern Sinn zu leihen. Aber schaue im Geiste auf Dich selbst, Dein inneres Leben und Lieben, erinnere Dich an alles Große was Du sahst, vertiefe Dich in Gedanken in das Heiligthum der Besten die Du kennst, und entscheide dann, ob die Dichter die <hi rendition="#g">Wirklichkeit</hi> uͤbertreffen, wie sie sich immer ruͤhmen. Mir hat sich sehr oft die Bemerkung aufgedrungen, daß die Poesie das hoͤchste Wirkliche durchaus nicht erreiche, und ich wunderte mich dann, uͤberall das Gegentheil zu hoͤren, bis ich einsah, daß es wohl ein bloßer Wortstreit seyn </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [19/0027]
und Seele der Menschheit. Da es aber kaum moͤglich seyn duͤrfte, beyde gleich sehr zu lieben, so wirst Du nun wie Herkules, oder Wilhelm Meister, am Scheidewege stehen, und zweifeln, welcher Muse Du den Preis geben und folgen sollst.
Laß uns von der Poesie anfangen. Mir scheint, sie ist Dir entweder etwas ganz anders als Poesie, oder nicht Poesie genug. Jch will sagen, Du behandelst sie entweder gradezu wie Philosophie, und haͤltst Dich nur an die goͤttlichen Gedanken, oder brauchst sie wie Musik, blos als schoͤne Umgebung und Ergaͤnzung des Lebens. Freylich ist es Dir auch Ernst mit der Poesie, und in den zwey oder drey großen Dichtern, den einzigen die Du eigentlich liesest, und immer wieder liesest, suchst Du unendlich viel, vorzuͤglich aber das Hoͤchste, eine wuͤrdige treffende Darstellung der schoͤnsten Menschheit und Liebe. Wo die Darstellung so tief und so wahr ist, hast Du leicht Anlaß uud Reiz finden koͤnnen, diese oder jene Dichtung in Dir von neuem zu dichten und ihr einen goͤttlichern Sinn zu leihen. Aber schaue im Geiste auf Dich selbst, Dein inneres Leben und Lieben, erinnere Dich an alles Große was Du sahst, vertiefe Dich in Gedanken in das Heiligthum der Besten die Du kennst, und entscheide dann, ob die Dichter die Wirklichkeit uͤbertreffen, wie sie sich immer ruͤhmen. Mir hat sich sehr oft die Bemerkung aufgedrungen, daß die Poesie das hoͤchste Wirkliche durchaus nicht erreiche, und ich wunderte mich dann, uͤberall das Gegentheil zu hoͤren, bis ich einsah, daß es wohl ein bloßer Wortstreit seyn
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