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Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800.

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der Poesie sich immerfort einzeln versplittern und wenn sie sich müde gekämpft hat gegen das widrige Element, endlich einsam verstummen? Soll das höchste heilige immer namenlos und formlos bleiben, im Dunkel dem Zufall überlassen? Jst die Liebe wirklich unüberwindlich, und giebt es wohl eine Kunst, die den Namen verdiente, wenn diese nicht die Gewalt hat, den Geist der Liebe durch ihr Zauberwort zu fesseln, daß er ihr folge und auf ihr Geheiß und nach ihrer nothwendigen Willkühr die schönen Bildungen beseelen muß? --

Jhr vor allen müßt wissen, was ich meyne. Jhr habt selbst gedichtet, und Jhr müßt es oft im Dichten gefühlt haben, daß es Euch an einem festen Halt für Euer Wirken gebrach, an einem mütterlichen Boden, einem Himmel, einer lebendigen Luft.

Aus dem Jnnern herausarbeiten das alles muß der moderne Dichter, und viele haben es herrlich gethan, aber bis jetzt nur jeder allein, jedes Werk wie eine neue Schöpfung von vorn an aus Nichts.

Jch gehe gleich zum Ziel. Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.

Denn auf dem ganz entgegengesetzten Wege wird

der Poesie sich immerfort einzeln versplittern und wenn sie sich muͤde gekaͤmpft hat gegen das widrige Element, endlich einsam verstummen? Soll das hoͤchste heilige immer namenlos und formlos bleiben, im Dunkel dem Zufall uͤberlassen? Jst die Liebe wirklich unuͤberwindlich, und giebt es wohl eine Kunst, die den Namen verdiente, wenn diese nicht die Gewalt hat, den Geist der Liebe durch ihr Zauberwort zu fesseln, daß er ihr folge und auf ihr Geheiß und nach ihrer nothwendigen Willkuͤhr die schoͤnen Bildungen beseelen muß? —

Jhr vor allen muͤßt wissen, was ich meyne. Jhr habt selbst gedichtet, und Jhr muͤßt es oft im Dichten gefuͤhlt haben, daß es Euch an einem festen Halt fuͤr Euer Wirken gebrach, an einem muͤtterlichen Boden, einem Himmel, einer lebendigen Luft.

Aus dem Jnnern herausarbeiten das alles muß der moderne Dichter, und viele haben es herrlich gethan, aber bis jetzt nur jeder allein, jedes Werk wie eine neue Schoͤpfung von vorn an aus Nichts.

Jch gehe gleich zum Ziel. Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie fuͤr die der Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, laͤßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.

Denn auf dem ganz entgegengesetzten Wege wird

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[95/0103] der Poesie sich immerfort einzeln versplittern und wenn sie sich muͤde gekaͤmpft hat gegen das widrige Element, endlich einsam verstummen? Soll das hoͤchste heilige immer namenlos und formlos bleiben, im Dunkel dem Zufall uͤberlassen? Jst die Liebe wirklich unuͤberwindlich, und giebt es wohl eine Kunst, die den Namen verdiente, wenn diese nicht die Gewalt hat, den Geist der Liebe durch ihr Zauberwort zu fesseln, daß er ihr folge und auf ihr Geheiß und nach ihrer nothwendigen Willkuͤhr die schoͤnen Bildungen beseelen muß? — Jhr vor allen muͤßt wissen, was ich meyne. Jhr habt selbst gedichtet, und Jhr muͤßt es oft im Dichten gefuͤhlt haben, daß es Euch an einem festen Halt fuͤr Euer Wirken gebrach, an einem muͤtterlichen Boden, einem Himmel, einer lebendigen Luft. Aus dem Jnnern herausarbeiten das alles muß der moderne Dichter, und viele haben es herrlich gethan, aber bis jetzt nur jeder allein, jedes Werk wie eine neue Schoͤpfung von vorn an aus Nichts. Jch gehe gleich zum Ziel. Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie fuͤr die der Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, laͤßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen. Denn auf dem ganz entgegengesetzten Wege wird

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Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/103>, abgerufen am 15.05.2024.