Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800.eine andre Richtung, die Kunst verschwand im Gedränge der alten und der neuen Welt, und über ein Jahrtausend verstrich, ehe wieder ein großer Dichter im Occident aufstand. Wer Talent zum Reden hatte, widmete sich bey den Römern gerichtlichen Geschäften, und wenn er ein Hellene war, hielt er populäre Vorlesungen über allerley Philosophie. Man begnügte sich, die alten Schätze jeder Art zu erhalten, zu sammeln, zu mischen, abzukürzen und zu verderben; und wie in andern Zweigen der Bildung, so zeigt sich auch in der Poesie nur selten eine Spur von Originalität, einzeln und ohne Nachdruck; nirgends ein Künstler, kein classisches Werk in so langer Zeit. Dagegen war die Erfindung und Begeisterung in der Religion um so reger; in der Ausbildung der neuen, in den Versuchen zur Umbildung der alten, in der mystischen Philosophie müssen wir die Kraft jener Zeit suchen, die in dieser Rücksicht groß war, eine Zwischenwelt der Bildung, ein fruchtbares Chaos zu einer neuen Ordnung der Dinge, das wahre Mittelalter. Mit den Germaniern strömte ein unverdorbener Felsenquell von neuem Heldengesang über Europa, und als die wilde Kraft der Gothischen Dichtung durch Einwirkung der Araber mit einem Nachhall von den reizenden Wundermährchen des Orients zusammentraf, blühte an der südlichen Küste gegen das Mittelmeer ein fröhliches Gewerbe von Erfindern lieblicher Gesänge und seltsamer Geschichten, und bald in dieser bald in jener Gestalt verbreitete sich mit der heiligen eine andre Richtung, die Kunst verschwand im Gedraͤnge der alten und der neuen Welt, und uͤber ein Jahrtausend verstrich, ehe wieder ein großer Dichter im Occident aufstand. Wer Talent zum Reden hatte, widmete sich bey den Roͤmern gerichtlichen Geschaͤften, und wenn er ein Hellene war, hielt er populaͤre Vorlesungen uͤber allerley Philosophie. Man begnuͤgte sich, die alten Schaͤtze jeder Art zu erhalten, zu sammeln, zu mischen, abzukuͤrzen und zu verderben; und wie in andern Zweigen der Bildung, so zeigt sich auch in der Poesie nur selten eine Spur von Originalitaͤt, einzeln und ohne Nachdruck; nirgends ein Kuͤnstler, kein classisches Werk in so langer Zeit. Dagegen war die Erfindung und Begeisterung in der Religion um so reger; in der Ausbildung der neuen, in den Versuchen zur Umbildung der alten, in der mystischen Philosophie muͤssen wir die Kraft jener Zeit suchen, die in dieser Ruͤcksicht groß war, eine Zwischenwelt der Bildung, ein fruchtbares Chaos zu einer neuen Ordnung der Dinge, das wahre Mittelalter. Mit den Germaniern stroͤmte ein unverdorbener Felsenquell von neuem Heldengesang uͤber Europa, und als die wilde Kraft der Gothischen Dichtung durch Einwirkung der Araber mit einem Nachhall von den reizenden Wundermaͤhrchen des Orients zusammentraf, bluͤhte an der suͤdlichen Kuͤste gegen das Mittelmeer ein froͤhliches Gewerbe von Erfindern lieblicher Gesaͤnge und seltsamer Geschichten, und bald in dieser bald in jener Gestalt verbreitete sich mit der heiligen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0084" n="76"/> eine andre Richtung, die Kunst verschwand im Gedraͤnge der alten und der neuen Welt, und uͤber ein Jahrtausend verstrich, ehe wieder ein großer Dichter im Occident aufstand. Wer Talent zum Reden hatte, widmete sich bey den Roͤmern gerichtlichen Geschaͤften, und wenn er ein Hellene war, hielt er populaͤre Vorlesungen uͤber allerley Philosophie. Man begnuͤgte sich, die alten Schaͤtze jeder Art zu erhalten, zu sammeln, zu mischen, abzukuͤrzen und zu verderben; und wie in andern Zweigen der Bildung, so zeigt sich auch in der Poesie nur selten eine Spur von Originalitaͤt, einzeln und ohne Nachdruck; nirgends ein Kuͤnstler, kein classisches Werk in so langer Zeit. Dagegen war die Erfindung und Begeisterung in der Religion um so reger; in der Ausbildung der neuen, in den Versuchen zur Umbildung der alten, in der mystischen Philosophie muͤssen wir die Kraft jener Zeit suchen, die in dieser Ruͤcksicht groß war, eine Zwischenwelt der Bildung, ein fruchtbares Chaos zu einer neuen Ordnung der Dinge, das wahre Mittelalter.</p><lb/> <p>Mit den Germaniern stroͤmte ein unverdorbener Felsenquell von neuem Heldengesang uͤber Europa, und als die wilde Kraft der Gothischen Dichtung durch Einwirkung der Araber mit einem Nachhall von den reizenden Wundermaͤhrchen des Orients zusammentraf, bluͤhte an der suͤdlichen Kuͤste gegen das Mittelmeer ein froͤhliches Gewerbe von Erfindern lieblicher Gesaͤnge und seltsamer Geschichten, und bald in dieser bald in jener Gestalt verbreitete sich mit der heiligen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [76/0084]
eine andre Richtung, die Kunst verschwand im Gedraͤnge der alten und der neuen Welt, und uͤber ein Jahrtausend verstrich, ehe wieder ein großer Dichter im Occident aufstand. Wer Talent zum Reden hatte, widmete sich bey den Roͤmern gerichtlichen Geschaͤften, und wenn er ein Hellene war, hielt er populaͤre Vorlesungen uͤber allerley Philosophie. Man begnuͤgte sich, die alten Schaͤtze jeder Art zu erhalten, zu sammeln, zu mischen, abzukuͤrzen und zu verderben; und wie in andern Zweigen der Bildung, so zeigt sich auch in der Poesie nur selten eine Spur von Originalitaͤt, einzeln und ohne Nachdruck; nirgends ein Kuͤnstler, kein classisches Werk in so langer Zeit. Dagegen war die Erfindung und Begeisterung in der Religion um so reger; in der Ausbildung der neuen, in den Versuchen zur Umbildung der alten, in der mystischen Philosophie muͤssen wir die Kraft jener Zeit suchen, die in dieser Ruͤcksicht groß war, eine Zwischenwelt der Bildung, ein fruchtbares Chaos zu einer neuen Ordnung der Dinge, das wahre Mittelalter.
Mit den Germaniern stroͤmte ein unverdorbener Felsenquell von neuem Heldengesang uͤber Europa, und als die wilde Kraft der Gothischen Dichtung durch Einwirkung der Araber mit einem Nachhall von den reizenden Wundermaͤhrchen des Orients zusammentraf, bluͤhte an der suͤdlichen Kuͤste gegen das Mittelmeer ein froͤhliches Gewerbe von Erfindern lieblicher Gesaͤnge und seltsamer Geschichten, und bald in dieser bald in jener Gestalt verbreitete sich mit der heiligen
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