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Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

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Ueber die Entstehung der Arten.
Augenblick anstehen, die Entwicklung, die Darwin dieser Lehre gege¬
ben hat, als einen entschiedenen Fortschritt zu begrüßen; ehe ich aber
zu einer kurzen Darstellung der Darwin'schen Lehre übergehe, muß ich
hier noch eine Schwierigkeit beseitigen, die in einem lange festgehalte¬
nen philosophischen Irrthum begründet ist. --

In allen das gegenwärtige Thema betreffenden Erörterungen tritt
uns nämlich ein Wort entgegen, das seine besondere Betrachtung in
Anspruch nimmt, welches das allergeläufigste in den naturgeschichtlichen
Disciplinen ist und doch so wenig bestimmte Bedeutung hat, daß kaum
zwei Forscher ganz genau über dasselbe einerlei Meinung sind. Es ist dies
das Wort "Art". Wir werden darüber zu keiner klaren Einsicht gelan¬
gen, wenn wir uns an die zahlreichen, so verschiedenen, oft sich ge¬
radezu widersprechenden Erklärungen der Forscher wenden, noch
weniger würden wir zum Abschluß gelangen, wenn wir uns den Be¬
griff ableiten wollten aus der Anwendung, welche die Naturbe¬
schreiber von demselben auf die wirklichen Naturkörper machen, denn
dabei ist vollends an keine Einigkeit zu denken; wo dieser 3 Arten von
Vögeln annimmt, macht jener 6; dieser findet 70 Arten von Eisenhut,
wo ein anderer nur 7--8 zu unterscheiden weiß. Es bleibt daher gar
nichts übrig, als den psychologischen Proceß zu verfolgen, durch welchen
wir auf das geführt werden, was wir mit dem Worte "Art" bezeichnen
wollen und allein bezeichnen dürfen. --

Die Menschen verständigen sich unter einander, wenn sie sich ihre
Wahrnehmungen, Erfahrungen und Gedanken mittheilen wollen, durch
Begriffe, zu deren Bezeichnung wir Worte gebrauchen. Nur da¬
durch ist eine geistige Gemeinschaft unter den Menschen möglich. Ein
Beispiel mag die Sache erläutern: Ich habe in einem Walde zahlreiche
einzelne Eichen, Buchen, Linden, Ahorne u. s. w. gesehen und will
einem andern, der zwar einzelne Linden und Eichen gesehen hat, aber
nie einen Wald, erklären, was das ist, so kann ich ihm ohne unver¬
ständlich zu werden oder mein halbes Leben daran zu wenden, nicht alle
die einzelnen Bäume, die ich sah, beschreiben, ich wende mich vielmehr

Schleiden, Vorlesungen. 3

Ueber die Entſtehung der Arten.
Augenblick anſtehen, die Entwicklung, die Darwin dieſer Lehre gege¬
ben hat, als einen entſchiedenen Fortſchritt zu begrüßen; ehe ich aber
zu einer kurzen Darſtellung der Darwin'ſchen Lehre übergehe, muß ich
hier noch eine Schwierigkeit beſeitigen, die in einem lange feſtgehalte¬
nen philoſophiſchen Irrthum begründet iſt. —

In allen das gegenwärtige Thema betreffenden Erörterungen tritt
uns nämlich ein Wort entgegen, das ſeine beſondere Betrachtung in
Anſpruch nimmt, welches das allergeläufigſte in den naturgeſchichtlichen
Disciplinen iſt und doch ſo wenig beſtimmte Bedeutung hat, daß kaum
zwei Forſcher ganz genau über daſſelbe einerlei Meinung ſind. Es iſt dies
das Wort „Art“. Wir werden darüber zu keiner klaren Einſicht gelan¬
gen, wenn wir uns an die zahlreichen, ſo verſchiedenen, oft ſich ge¬
radezu widerſprechenden Erklärungen der Forſcher wenden, noch
weniger würden wir zum Abſchluß gelangen, wenn wir uns den Be¬
griff ableiten wollten aus der Anwendung, welche die Naturbe¬
ſchreiber von demſelben auf die wirklichen Naturkörper machen, denn
dabei iſt vollends an keine Einigkeit zu denken; wo dieſer 3 Arten von
Vögeln annimmt, macht jener 6; dieſer findet 70 Arten von Eiſenhut,
wo ein anderer nur 7—8 zu unterſcheiden weiß. Es bleibt daher gar
nichts übrig, als den pſychologiſchen Proceß zu verfolgen, durch welchen
wir auf das geführt werden, was wir mit dem Worte „Art“ bezeichnen
wollen und allein bezeichnen dürfen. —

Die Menſchen verſtändigen ſich unter einander, wenn ſie ſich ihre
Wahrnehmungen, Erfahrungen und Gedanken mittheilen wollen, durch
Begriffe, zu deren Bezeichnung wir Worte gebrauchen. Nur da¬
durch iſt eine geiſtige Gemeinſchaft unter den Menſchen möglich. Ein
Beiſpiel mag die Sache erläutern: Ich habe in einem Walde zahlreiche
einzelne Eichen, Buchen, Linden, Ahorne u. ſ. w. geſehen und will
einem andern, der zwar einzelne Linden und Eichen geſehen hat, aber
nie einen Wald, erklären, was das iſt, ſo kann ich ihm ohne unver¬
ſtändlich zu werden oder mein halbes Leben daran zu wenden, nicht alle
die einzelnen Bäume, die ich ſah, beſchreiben, ich wende mich vielmehr

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[31/0041] Ueber die Entſtehung der Arten. Augenblick anſtehen, die Entwicklung, die Darwin dieſer Lehre gege¬ ben hat, als einen entſchiedenen Fortſchritt zu begrüßen; ehe ich aber zu einer kurzen Darſtellung der Darwin'ſchen Lehre übergehe, muß ich hier noch eine Schwierigkeit beſeitigen, die in einem lange feſtgehalte¬ nen philoſophiſchen Irrthum begründet iſt. — In allen das gegenwärtige Thema betreffenden Erörterungen tritt uns nämlich ein Wort entgegen, das ſeine beſondere Betrachtung in Anſpruch nimmt, welches das allergeläufigſte in den naturgeſchichtlichen Disciplinen iſt und doch ſo wenig beſtimmte Bedeutung hat, daß kaum zwei Forſcher ganz genau über daſſelbe einerlei Meinung ſind. Es iſt dies das Wort „Art“. Wir werden darüber zu keiner klaren Einſicht gelan¬ gen, wenn wir uns an die zahlreichen, ſo verſchiedenen, oft ſich ge¬ radezu widerſprechenden Erklärungen der Forſcher wenden, noch weniger würden wir zum Abſchluß gelangen, wenn wir uns den Be¬ griff ableiten wollten aus der Anwendung, welche die Naturbe¬ ſchreiber von demſelben auf die wirklichen Naturkörper machen, denn dabei iſt vollends an keine Einigkeit zu denken; wo dieſer 3 Arten von Vögeln annimmt, macht jener 6; dieſer findet 70 Arten von Eiſenhut, wo ein anderer nur 7—8 zu unterſcheiden weiß. Es bleibt daher gar nichts übrig, als den pſychologiſchen Proceß zu verfolgen, durch welchen wir auf das geführt werden, was wir mit dem Worte „Art“ bezeichnen wollen und allein bezeichnen dürfen. — Die Menſchen verſtändigen ſich unter einander, wenn ſie ſich ihre Wahrnehmungen, Erfahrungen und Gedanken mittheilen wollen, durch Begriffe, zu deren Bezeichnung wir Worte gebrauchen. Nur da¬ durch iſt eine geiſtige Gemeinſchaft unter den Menſchen möglich. Ein Beiſpiel mag die Sache erläutern: Ich habe in einem Walde zahlreiche einzelne Eichen, Buchen, Linden, Ahorne u. ſ. w. geſehen und will einem andern, der zwar einzelne Linden und Eichen geſehen hat, aber nie einen Wald, erklären, was das iſt, ſo kann ich ihm ohne unver¬ ſtändlich zu werden oder mein halbes Leben daran zu wenden, nicht alle die einzelnen Bäume, die ich ſah, beſchreiben, ich wende mich vielmehr Schleiden, Vorleſungen. 3

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/41>, abgerufen am 21.11.2024.