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Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

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Stellung des Menschen in der Natur.
hingestellt, die aller thatsächlichen Begründung entbehrt, an welcher er
aber ungeachtet der schlagendsten Widerlegung, die ihm von allen Sei¬
ten geworden ist, mit bedauerlichem Eigensinn festhält. Die gründlichen
Untersuchungen der neueren Zeit von Gratiolet, Schröder van der
Kolk, Marschall, Huxley u. A. haben Owen auf das vollständigste
widerlegt und nachgewiesen, daß durchaus kein wesentlicher Unter¬
schied zwischen dem Gehirn des Menschen und dem der höheren Affen
stattfindet und daß die wahrnehmbaren untergeordneten Unterschiede sich
ebenso und fast noch ausgeprägter unter den Rassen und Individuen
des Menschengeschlechts zeigen.

Gehen wir nun zu den Kunsttrieben über, so finden wir ebenfalls
nur wenig, was den Menschen überhaupt von den Thieren unterschei¬
det, nichts, was uns nöthigte, ihn sehr hoch über die Thiere hinaus zu
erheben. -- Der Mensch ist seiner Natur nach Nesthocker, wie man es
bei den Vögeln nennt, d. h. nach seiner Geburt noch längere Zeit un¬
fähig, sich selbst zu ernähren und der Mensch sorgt deshalb wie die
Thiere, bei denen dasselbe stattfindet, für seine Nachkommenschaft; die
Liebe der Eltern zu den Kindern ist noch nichts lobenswerthes sondern
natürlicher, thierischer Trieb. Der Mensch ist ferner Heerdenthier, wie
man es bei den Vierfüßern zu nennen pflegt; er tritt mit seines Glei¬
chen zu größeren Schaaren unter bestimmten Formen zusammen. Staa¬
tenbildung finden wir auch bei den Thieren, besonders bei Wieder¬
käuern und am auffallendsten bei Insecten, Bienen, Ameisen, bei eini¬
gen der letzteren in Südamerika sogar mit Haltung von Arbeitssklaven
aus einem anderen Insectengeschlecht. -- Man bezeichnet es wohl als
einen besonderen Kunsttrieb des Menschen, daß er seine Speise, wenn
er irgend kann, erst an's Feuer bringt, ehe er sie genießt; aber ohne
untersuchen zu wollen, ob dieser Trieb wirklich ursprünglich ist, so ent¬
spricht derselbe doch nur dem Triebe des Waschbären, der seine Speise
erst ins Wasser taucht. So bleibt nur noch ein Trieb übrig, der von
Pritchard als charakteristischer Unterschied des Menschen vom Thiere
aufgestellt worden ist, daß er nämlich überall Handlungen begeht, die

Stellung des Menſchen in der Natur.
hingeſtellt, die aller thatſächlichen Begründung entbehrt, an welcher er
aber ungeachtet der ſchlagendſten Widerlegung, die ihm von allen Sei¬
ten geworden iſt, mit bedauerlichem Eigenſinn feſthält. Die gründlichen
Unterſuchungen der neueren Zeit von Gratiolet, Schröder van der
Kolk, Marſchall, Huxley u. A. haben Owen auf das vollſtändigſte
widerlegt und nachgewieſen, daß durchaus kein weſentlicher Unter¬
ſchied zwiſchen dem Gehirn des Menſchen und dem der höheren Affen
ſtattfindet und daß die wahrnehmbaren untergeordneten Unterſchiede ſich
ebenſo und faſt noch ausgeprägter unter den Raſſen und Individuen
des Menſchengeſchlechts zeigen.

Gehen wir nun zu den Kunſttrieben über, ſo finden wir ebenfalls
nur wenig, was den Menſchen überhaupt von den Thieren unterſchei¬
det, nichts, was uns nöthigte, ihn ſehr hoch über die Thiere hinaus zu
erheben. — Der Menſch iſt ſeiner Natur nach Neſthocker, wie man es
bei den Vögeln nennt, d. h. nach ſeiner Geburt noch längere Zeit un¬
fähig, ſich ſelbſt zu ernähren und der Menſch ſorgt deshalb wie die
Thiere, bei denen dasſelbe ſtattfindet, für ſeine Nachkommenſchaft; die
Liebe der Eltern zu den Kindern iſt noch nichts lobenswerthes ſondern
natürlicher, thieriſcher Trieb. Der Menſch iſt ferner Heerdenthier, wie
man es bei den Vierfüßern zu nennen pflegt; er tritt mit ſeines Glei¬
chen zu größeren Schaaren unter beſtimmten Formen zuſammen. Staa¬
tenbildung finden wir auch bei den Thieren, beſonders bei Wieder¬
käuern und am auffallendſten bei Inſecten, Bienen, Ameiſen, bei eini¬
gen der letzteren in Südamerika ſogar mit Haltung von Arbeitsſklaven
aus einem anderen Inſectengeſchlecht. — Man bezeichnet es wohl als
einen beſonderen Kunſttrieb des Menſchen, daß er ſeine Speiſe, wenn
er irgend kann, erſt an's Feuer bringt, ehe er ſie genießt; aber ohne
unterſuchen zu wollen, ob dieſer Trieb wirklich urſprünglich iſt, ſo ent¬
ſpricht derſelbe doch nur dem Triebe des Waſchbären, der ſeine Speiſe
erſt ins Waſſer taucht. So bleibt nur noch ein Trieb übrig, der von
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[55/0065] Stellung des Menſchen in der Natur. hingeſtellt, die aller thatſächlichen Begründung entbehrt, an welcher er aber ungeachtet der ſchlagendſten Widerlegung, die ihm von allen Sei¬ ten geworden iſt, mit bedauerlichem Eigenſinn feſthält. Die gründlichen Unterſuchungen der neueren Zeit von Gratiolet, Schröder van der Kolk, Marſchall, Huxley u. A. haben Owen auf das vollſtändigſte widerlegt und nachgewieſen, daß durchaus kein weſentlicher Unter¬ ſchied zwiſchen dem Gehirn des Menſchen und dem der höheren Affen ſtattfindet und daß die wahrnehmbaren untergeordneten Unterſchiede ſich ebenſo und faſt noch ausgeprägter unter den Raſſen und Individuen des Menſchengeſchlechts zeigen. Gehen wir nun zu den Kunſttrieben über, ſo finden wir ebenfalls nur wenig, was den Menſchen überhaupt von den Thieren unterſchei¬ det, nichts, was uns nöthigte, ihn ſehr hoch über die Thiere hinaus zu erheben. — Der Menſch iſt ſeiner Natur nach Neſthocker, wie man es bei den Vögeln nennt, d. h. nach ſeiner Geburt noch längere Zeit un¬ fähig, ſich ſelbſt zu ernähren und der Menſch ſorgt deshalb wie die Thiere, bei denen dasſelbe ſtattfindet, für ſeine Nachkommenſchaft; die Liebe der Eltern zu den Kindern iſt noch nichts lobenswerthes ſondern natürlicher, thieriſcher Trieb. Der Menſch iſt ferner Heerdenthier, wie man es bei den Vierfüßern zu nennen pflegt; er tritt mit ſeines Glei¬ chen zu größeren Schaaren unter beſtimmten Formen zuſammen. Staa¬ tenbildung finden wir auch bei den Thieren, beſonders bei Wieder¬ käuern und am auffallendſten bei Inſecten, Bienen, Ameiſen, bei eini¬ gen der letzteren in Südamerika ſogar mit Haltung von Arbeitsſklaven aus einem anderen Inſectengeſchlecht. — Man bezeichnet es wohl als einen beſonderen Kunſttrieb des Menſchen, daß er ſeine Speiſe, wenn er irgend kann, erſt an's Feuer bringt, ehe er ſie genießt; aber ohne unterſuchen zu wollen, ob dieſer Trieb wirklich urſprünglich iſt, ſo ent¬ ſpricht derſelbe doch nur dem Triebe des Waſchbären, der ſeine Speiſe erſt ins Waſſer taucht. So bleibt nur noch ein Trieb übrig, der von Pritchard als charakteriſtiſcher Unterſchied des Menſchen vom Thiere aufgeſtellt worden iſt, daß er nämlich überall Handlungen begeht, die

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/65>, abgerufen am 21.11.2024.