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Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

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Stellung des Menschen in der Natur.
immer durch meine Vorstellungen geschieden bin, so folgt daraus von
selbst, daß für mich die Wahrheit immer nur in meinem Vorstellungs¬
kreise gefunden, und auf ihn und seine Gesetzmäßigkeit gegründet sein
kann.

Unter den Gewölben der Dome sucht die kindliche gläubige Auf¬
fassung ihren Gott, unter dem Gewölbe der Schädeldecke wohnt nach
ebenso kindlicher Auffassungsweise oder Wissenschaft unser geistiges
Wesen. Ebenso kindlich, sage ich, denn sobald wir uns in uns selbst
nur über unser Ich irgendwie orientirt haben, so finden wir, daß allen
Vorstellungen, die wir von unserm Ich, von seinen Thätigkeiten, seinem
Denken, Fühlen und Wollen besitzen, gar keine Beziehung auf den
Raum beiwohnt, daß es ein vollkommenes Unding ist, von einem Sitz
der Seele zu sprechen. Unser Geist hat so wenig seinen Sitz im Gehirn
als Rafaels Genie seinen Sitz im Pinsel hatte, obwohl er nur durch
den Pinsel wirken konnte; so ist das Gehirn wohl ein Instrument des
Geistes aber nicht sein Wohnort, da ihm überall keine Beziehung auf
das "Wo", keine Räumlichkeit zukommt. Da nun in unserem Vorstel¬
lungskreise nichts, was wir als körperlich auffassen, seine Bestimmung
durch den Raum, durch das "Wo" und das "Wie groß" ablegen kann, so
ergiebt sich, daß wir unser eigentliches Ich, das, was in uns denkt,
fühlt, will, nur als etwas dem Raum nicht angehöriges, Unkörperliches
auffassen können.

Eine sorgfältige und eindringende Kritik unserer Vorstellungen
führt uns noch zu einigen anderen sehr wichtigen Erkenntnissen. Zu¬
nächst zerfließt uns die Raumwelt, gerade das, was dem blos sinnlichen,
nicht denkenden Menschen als das festeste erscheint, bei näherer Betrach¬
tung unter den Händen zu einem unwesenhaften Nebelbild. Was
wirklich vorhanden, ein wahrhaftiger Gegenstand für unsere Erkennt¬
niß sein soll, muß doch nothwendig ein fertiges Ganze sein und auf der
anderen Seite kann es als wirkliches Ganze gar nicht gedacht werden,
wenn es nicht aus bestimmten, wirklichen d. h. einfachen Theilen
besteht. -- Die Außenwelt erkennen wir aber im Raume, und was im

Stellung des Menſchen in der Natur.
immer durch meine Vorſtellungen geſchieden bin, ſo folgt daraus von
ſelbſt, daß für mich die Wahrheit immer nur in meinem Vorſtellungs¬
kreiſe gefunden, und auf ihn und ſeine Geſetzmäßigkeit gegründet ſein
kann.

Unter den Gewölben der Dome ſucht die kindliche gläubige Auf¬
faſſung ihren Gott, unter dem Gewölbe der Schädeldecke wohnt nach
ebenſo kindlicher Auffaſſungsweiſe oder Wiſſenſchaft unſer geiſtiges
Weſen. Ebenſo kindlich, ſage ich, denn ſobald wir uns in uns ſelbſt
nur über unſer Ich irgendwie orientirt haben, ſo finden wir, daß allen
Vorſtellungen, die wir von unſerm Ich, von ſeinen Thätigkeiten, ſeinem
Denken, Fühlen und Wollen beſitzen, gar keine Beziehung auf den
Raum beiwohnt, daß es ein vollkommenes Unding iſt, von einem Sitz
der Seele zu ſprechen. Unſer Geiſt hat ſo wenig ſeinen Sitz im Gehirn
als Rafaels Genie ſeinen Sitz im Pinſel hatte, obwohl er nur durch
den Pinſel wirken konnte; ſo iſt das Gehirn wohl ein Inſtrument des
Geiſtes aber nicht ſein Wohnort, da ihm überall keine Beziehung auf
das „Wo“, keine Räumlichkeit zukommt. Da nun in unſerem Vorſtel¬
lungskreiſe nichts, was wir als körperlich auffaſſen, ſeine Beſtimmung
durch den Raum, durch das „Wo“ und das „Wie groß“ ablegen kann, ſo
ergiebt ſich, daß wir unſer eigentliches Ich, das, was in uns denkt,
fühlt, will, nur als etwas dem Raum nicht angehöriges, Unkörperliches
auffaſſen können.

Eine ſorgfältige und eindringende Kritik unſerer Vorſtellungen
führt uns noch zu einigen anderen ſehr wichtigen Erkenntniſſen. Zu¬
nächſt zerfließt uns die Raumwelt, gerade das, was dem blos ſinnlichen,
nicht denkenden Menſchen als das feſteſte erſcheint, bei näherer Betrach¬
tung unter den Händen zu einem unweſenhaften Nebelbild. Was
wirklich vorhanden, ein wahrhaftiger Gegenſtand für unſere Erkennt¬
niß ſein ſoll, muß doch nothwendig ein fertiges Ganze ſein und auf der
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wenn es nicht aus beſtimmten, wirklichen d. h. einfachen Theilen
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[57/0067] Stellung des Menſchen in der Natur. immer durch meine Vorſtellungen geſchieden bin, ſo folgt daraus von ſelbſt, daß für mich die Wahrheit immer nur in meinem Vorſtellungs¬ kreiſe gefunden, und auf ihn und ſeine Geſetzmäßigkeit gegründet ſein kann. Unter den Gewölben der Dome ſucht die kindliche gläubige Auf¬ faſſung ihren Gott, unter dem Gewölbe der Schädeldecke wohnt nach ebenſo kindlicher Auffaſſungsweiſe oder Wiſſenſchaft unſer geiſtiges Weſen. Ebenſo kindlich, ſage ich, denn ſobald wir uns in uns ſelbſt nur über unſer Ich irgendwie orientirt haben, ſo finden wir, daß allen Vorſtellungen, die wir von unſerm Ich, von ſeinen Thätigkeiten, ſeinem Denken, Fühlen und Wollen beſitzen, gar keine Beziehung auf den Raum beiwohnt, daß es ein vollkommenes Unding iſt, von einem Sitz der Seele zu ſprechen. Unſer Geiſt hat ſo wenig ſeinen Sitz im Gehirn als Rafaels Genie ſeinen Sitz im Pinſel hatte, obwohl er nur durch den Pinſel wirken konnte; ſo iſt das Gehirn wohl ein Inſtrument des Geiſtes aber nicht ſein Wohnort, da ihm überall keine Beziehung auf das „Wo“, keine Räumlichkeit zukommt. Da nun in unſerem Vorſtel¬ lungskreiſe nichts, was wir als körperlich auffaſſen, ſeine Beſtimmung durch den Raum, durch das „Wo“ und das „Wie groß“ ablegen kann, ſo ergiebt ſich, daß wir unſer eigentliches Ich, das, was in uns denkt, fühlt, will, nur als etwas dem Raum nicht angehöriges, Unkörperliches auffaſſen können. Eine ſorgfältige und eindringende Kritik unſerer Vorſtellungen führt uns noch zu einigen anderen ſehr wichtigen Erkenntniſſen. Zu¬ nächſt zerfließt uns die Raumwelt, gerade das, was dem blos ſinnlichen, nicht denkenden Menſchen als das feſteſte erſcheint, bei näherer Betrach¬ tung unter den Händen zu einem unweſenhaften Nebelbild. Was wirklich vorhanden, ein wahrhaftiger Gegenſtand für unſere Erkennt¬ niß ſein ſoll, muß doch nothwendig ein fertiges Ganze ſein und auf der anderen Seite kann es als wirkliches Ganze gar nicht gedacht werden, wenn es nicht aus beſtimmten, wirklichen d. h. einfachen Theilen beſteht. — Die Außenwelt erkennen wir aber im Raume, und was im

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/67>, abgerufen am 21.11.2024.