genthümlichkeit auf die Bildung gewisser Formen der Kleidungs- stücke haben, wie der Geschmack die so entstandenen Formen ergreift, nach seinem Zwecke umgestaltet und endlich sich die Laune einmischt, um durch das Eingreifen ihrer Bizarrerien die bunte Mannigfaltig- keit hervorzurufen, die unser Auge immer ergötzt, so lange nicht ein übersättigter Sinn und ein verdorbener Geschmack offenbar Häßliches schaffen. -- Ebenso beim Wetter, und um so mehr so, als nichts so tief in unser körperliches und geistiges Leben eingreift, als eben dieses. Wer möchte heut zu Tage bei unsern complicirten Lebens- verhältnissen noch behaupten, er sey absolut gesund? und brauche ich es erst auseinander zu setzen, welchen Einfluß das Wetter auf einen nicht vollkommen gesunden Menschen ausübt, wie insbesondere alle die an chronischen Krankheiten leiden, in ihrem Wohlbefinden von der Witterungsconstitution abhängig sind? Wer kennte nicht die alte Redensart: "der Mann hat einen Kalender an sich," welche sich auf die beständig wechselnden Gefühle in einem kranken Gliede, in größeren Wunden, oder an Amputationsflächen, selbst dann, wenn der Mensch übrigens vollkommen gesund ist, zeigen, so wie sich be- deutende Veränderungen im Wetter zutragen. -- Hier sind es die Nerven, die sich im menschlichen Körper überall hin gleichsam wie Fühlfäden der Seele ausstrecken, welche oft genauere und frühere Kunde von den Veränderungen um uns geben, als die nur auffal- lende Erscheinungen erfassenden Augen. -- Aber eben wegen dieser Nerven muß man auch behaupten, daß selbst der gesunde Mensch fortwährend den Einflüssen der Witterung offen ist. Von jedem Mann kann man zwar verlangen, daß er diesen unmerklichen Ein- wirkungen durch den Willen zu widerstehen vermag, daß er ihnen auf sein Denken und Handeln keinerlei Einfluß gestatte. Wer aber diese Einwirkung des Wetters auf sich, auf das Gefühl der Lust oder des Unbehagens, der Kraft und Gesundheit oder der Niedergeschla- genheit und Mattigkeit ableugnen wollte, den müßte ich der Un- wahrheit oder der mangelhaften Selbstbeobachtung zeihen, oder ihn als einen Mann von krankhaft abgestumpften Nerven beklagen. Ja,
genthümlichkeit auf die Bildung gewiſſer Formen der Kleidungs- ſtücke haben, wie der Geſchmack die ſo entſtandenen Formen ergreift, nach ſeinem Zwecke umgeſtaltet und endlich ſich die Laune einmiſcht, um durch das Eingreifen ihrer Bizarrerien die bunte Mannigfaltig- keit hervorzurufen, die unſer Auge immer ergötzt, ſo lange nicht ein überſättigter Sinn und ein verdorbener Geſchmack offenbar Häßliches ſchaffen. — Ebenſo beim Wetter, und um ſo mehr ſo, als nichts ſo tief in unſer körperliches und geiſtiges Leben eingreift, als eben dieſes. Wer möchte heut zu Tage bei unſern complicirten Lebens- verhältniſſen noch behaupten, er ſey abſolut geſund? und brauche ich es erſt auseinander zu ſetzen, welchen Einfluß das Wetter auf einen nicht vollkommen geſunden Menſchen ausübt, wie insbeſondere alle die an chroniſchen Krankheiten leiden, in ihrem Wohlbefinden von der Witterungsconſtitution abhängig ſind? Wer kennte nicht die alte Redensart: „der Mann hat einen Kalender an ſich,“ welche ſich auf die beſtändig wechſelnden Gefühle in einem kranken Gliede, in größeren Wunden, oder an Amputationsflächen, ſelbſt dann, wenn der Menſch übrigens vollkommen geſund iſt, zeigen, ſo wie ſich be- deutende Veränderungen im Wetter zutragen. — Hier ſind es die Nerven, die ſich im menſchlichen Körper überall hin gleichſam wie Fühlfäden der Seele ausſtrecken, welche oft genauere und frühere Kunde von den Veränderungen um uns geben, als die nur auffal- lende Erſcheinungen erfaſſenden Augen. — Aber eben wegen dieſer Nerven muß man auch behaupten, daß ſelbſt der geſunde Menſch fortwährend den Einflüſſen der Witterung offen iſt. Von jedem Mann kann man zwar verlangen, daß er dieſen unmerklichen Ein- wirkungen durch den Willen zu widerſtehen vermag, daß er ihnen auf ſein Denken und Handeln keinerlei Einfluß geſtatte. Wer aber dieſe Einwirkung des Wetters auf ſich, auf das Gefühl der Luſt oder des Unbehagens, der Kraft und Geſundheit oder der Niedergeſchla- genheit und Mattigkeit ableugnen wollte, den müßte ich der Un- wahrheit oder der mangelhaften Selbſtbeobachtung zeihen, oder ihn als einen Mann von krankhaft abgeſtumpften Nerven beklagen. Ja,
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genthümlichkeit auf die Bildung gewiſſer Formen der Kleidungs-
ſtücke haben, wie der Geſchmack die ſo entſtandenen Formen ergreift,
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um durch das Eingreifen ihrer Bizarrerien die bunte Mannigfaltig-
keit hervorzurufen, die unſer Auge immer ergötzt, ſo lange nicht ein
überſättigter Sinn und ein verdorbener Geſchmack offenbar Häßliches
ſchaffen. — Ebenſo beim Wetter, und um ſo mehr ſo, als nichts
ſo tief in unſer körperliches und geiſtiges Leben eingreift, als eben
dieſes. Wer möchte heut zu Tage bei unſern complicirten Lebens-
verhältniſſen noch behaupten, er ſey abſolut geſund? und brauche ich
es erſt auseinander zu ſetzen, welchen Einfluß das Wetter auf einen
nicht vollkommen geſunden Menſchen ausübt, wie insbeſondere alle
die an chroniſchen Krankheiten leiden, in ihrem Wohlbefinden von
der Witterungsconſtitution abhängig ſind? Wer kennte nicht die alte
Redensart: „der Mann hat einen Kalender an ſich,“ welche ſich
auf die beſtändig wechſelnden Gefühle in einem kranken Gliede, in
größeren Wunden, oder an Amputationsflächen, ſelbſt dann, wenn
der Menſch übrigens vollkommen geſund iſt, zeigen, ſo wie ſich be-
deutende Veränderungen im Wetter zutragen. — Hier ſind es die
Nerven, die ſich im menſchlichen Körper überall hin gleichſam wie
Fühlfäden der Seele ausſtrecken, welche oft genauere und frühere
Kunde von den Veränderungen um uns geben, als die nur auffal-
lende Erſcheinungen erfaſſenden Augen. — Aber eben wegen dieſer
Nerven muß man auch behaupten, daß ſelbſt der geſunde Menſch
fortwährend den Einflüſſen der Witterung offen iſt. Von jedem
Mann kann man zwar verlangen, daß er dieſen unmerklichen Ein-
wirkungen durch den Willen zu widerſtehen vermag, daß er ihnen
auf ſein Denken und Handeln keinerlei Einfluß geſtatte. Wer aber
dieſe Einwirkung des Wetters auf ſich, auf das Gefühl der Luſt oder
des Unbehagens, der Kraft und Geſundheit oder der Niedergeſchla-
genheit und Mattigkeit ableugnen wollte, den müßte ich der Un-
wahrheit oder der mangelhaften Selbſtbeobachtung zeihen, oder ihn
als einen Mann von krankhaft abgeſtumpften Nerven beklagen. Ja,
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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/120>, abgerufen am 24.11.2024.
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