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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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grüßung; finster wirft sich der Mann auf's Canapee und peinliches
Schweigen herrscht im Zimmer, mit einem Worte, wo man Liebe
und Freude gesucht, ist Mißmuth und Trübsinn eingezogen, und
warum? der anhaltende Regen hat die Heuernte ruinirt und wegge-
schwemmt; der Schaden beläuft sich auf viele tausend Thaler.

Und dort: mit einer gewissen Bangigkeit blickt eine Frau in den
sonnigen Herbstmorgen, da stürmt der Mann herein, umarmt sie
und spricht: "Ein köstliches Jahr, ein Wein wie der Elfer, baaren
Gewinn von 10,000 Thaler, so eben verkaufte ich den ganzen Er-
trag. Freue dich mit mir, Geliebte," und dabei überreicht er ihr den
langersehnten Caschmirshawl; Freunde kommen, um Glück zu wün-
schen und bis spät in die Nacht tönt der Jubel der Freude aus dem
Hause. -- Das Wetter ist es, welches hier beglückt, dort Kum-
mer bereitet.

Erheben wir uns endlich noch auf höheren Standpunkt.
Die ganze Erde liegt ausgebreitet zu unsern Füßen. Dort sehen wir
ein weichliches Volk, der Despot in allen Lüsten schwelgend, der
Bonze allmächtig, der Paria gedrückt und getreten, Aberglaube statt
Glaube, Formelwesen statt Geist. Hier ein kräftiges Volk, stolz auf
seine Macht, "Freiheit kehrt ungehindert in die ärmste Hütte ein
und schüttet Reichthum aus auf die beglückten Fluren," *) wie der
Dichter sagt. Dort sehen wir ein Volk, geistig entwickelt und gebildet,
wie kein anderes, beständig beschäftigt mit den höchsten Aufgaben der
Menschheit und meist in ihren Lösungen glücklich und bei diesem re-
gen Geistesleben fast des Leiblichen vergessend und sorglos einigen
Wenigen die Leitung seiner Angelegenheiten überlassend und unter
andern Breiten derselbe Stamm, entartet durch Schwelgen, versun-
ken fast in thierischen Genuß der Sinnenreize, über die er als despo-
tischer Herr in seinen eignen Angelegenheiten gebietet und unbeküm-
mert, ob es ein solches Ding wie eine Seele gebe, die ihr höheres
Recht auf Entwicklung und Ausbildung geltend machen könnte.

*) "Where liberty abroad walks unconfined even to thy farthest cotts
and scatters plenty o'er the shining land." Thomson's seasons.

grüßung; finſter wirft ſich der Mann auf's Canapee und peinliches
Schweigen herrſcht im Zimmer, mit einem Worte, wo man Liebe
und Freude geſucht, iſt Mißmuth und Trübſinn eingezogen, und
warum? der anhaltende Regen hat die Heuernte ruinirt und wegge-
ſchwemmt; der Schaden beläuft ſich auf viele tauſend Thaler.

Und dort: mit einer gewiſſen Bangigkeit blickt eine Frau in den
ſonnigen Herbſtmorgen, da ſtürmt der Mann herein, umarmt ſie
und ſpricht: „Ein köſtliches Jahr, ein Wein wie der Elfer, baaren
Gewinn von 10,000 Thaler, ſo eben verkaufte ich den ganzen Er-
trag. Freue dich mit mir, Geliebte,“ und dabei überreicht er ihr den
langerſehnten Caſchmirſhawl; Freunde kommen, um Glück zu wün-
ſchen und bis ſpät in die Nacht tönt der Jubel der Freude aus dem
Hauſe. — Das Wetter iſt es, welches hier beglückt, dort Kum-
mer bereitet.

Erheben wir uns endlich noch auf höheren Standpunkt.
Die ganze Erde liegt ausgebreitet zu unſern Füßen. Dort ſehen wir
ein weichliches Volk, der Deſpot in allen Lüſten ſchwelgend, der
Bonze allmächtig, der Paria gedrückt und getreten, Aberglaube ſtatt
Glaube, Formelweſen ſtatt Geiſt. Hier ein kräftiges Volk, ſtolz auf
ſeine Macht, „Freiheit kehrt ungehindert in die ärmſte Hütte ein
und ſchüttet Reichthum aus auf die beglückten Fluren,“ *) wie der
Dichter ſagt. Dort ſehen wir ein Volk, geiſtig entwickelt und gebildet,
wie kein anderes, beſtändig beſchäftigt mit den höchſten Aufgaben der
Menſchheit und meiſt in ihren Löſungen glücklich und bei dieſem re-
gen Geiſtesleben faſt des Leiblichen vergeſſend und ſorglos einigen
Wenigen die Leitung ſeiner Angelegenheiten überlaſſend und unter
andern Breiten derſelbe Stamm, entartet durch Schwelgen, verſun-
ken faſt in thieriſchen Genuß der Sinnenreize, über die er als deſpo-
tiſcher Herr in ſeinen eignen Angelegenheiten gebietet und unbeküm-
mert, ob es ein ſolches Ding wie eine Seele gebe, die ihr höheres
Recht auf Entwicklung und Ausbildung geltend machen könnte.

*) „Where liberty abroad walks unconfined even to thy farthest cotts
and scatters plenty o'er the shining land.“ Thomson's seasons.
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[106/0122] grüßung; finſter wirft ſich der Mann auf's Canapee und peinliches Schweigen herrſcht im Zimmer, mit einem Worte, wo man Liebe und Freude geſucht, iſt Mißmuth und Trübſinn eingezogen, und warum? der anhaltende Regen hat die Heuernte ruinirt und wegge- ſchwemmt; der Schaden beläuft ſich auf viele tauſend Thaler. Und dort: mit einer gewiſſen Bangigkeit blickt eine Frau in den ſonnigen Herbſtmorgen, da ſtürmt der Mann herein, umarmt ſie und ſpricht: „Ein köſtliches Jahr, ein Wein wie der Elfer, baaren Gewinn von 10,000 Thaler, ſo eben verkaufte ich den ganzen Er- trag. Freue dich mit mir, Geliebte,“ und dabei überreicht er ihr den langerſehnten Caſchmirſhawl; Freunde kommen, um Glück zu wün- ſchen und bis ſpät in die Nacht tönt der Jubel der Freude aus dem Hauſe. — Das Wetter iſt es, welches hier beglückt, dort Kum- mer bereitet. Erheben wir uns endlich noch auf höheren Standpunkt. Die ganze Erde liegt ausgebreitet zu unſern Füßen. Dort ſehen wir ein weichliches Volk, der Deſpot in allen Lüſten ſchwelgend, der Bonze allmächtig, der Paria gedrückt und getreten, Aberglaube ſtatt Glaube, Formelweſen ſtatt Geiſt. Hier ein kräftiges Volk, ſtolz auf ſeine Macht, „Freiheit kehrt ungehindert in die ärmſte Hütte ein und ſchüttet Reichthum aus auf die beglückten Fluren,“ *) wie der Dichter ſagt. Dort ſehen wir ein Volk, geiſtig entwickelt und gebildet, wie kein anderes, beſtändig beſchäftigt mit den höchſten Aufgaben der Menſchheit und meiſt in ihren Löſungen glücklich und bei dieſem re- gen Geiſtesleben faſt des Leiblichen vergeſſend und ſorglos einigen Wenigen die Leitung ſeiner Angelegenheiten überlaſſend und unter andern Breiten derſelbe Stamm, entartet durch Schwelgen, verſun- ken faſt in thieriſchen Genuß der Sinnenreize, über die er als deſpo- tiſcher Herr in ſeinen eignen Angelegenheiten gebietet und unbeküm- mert, ob es ein ſolches Ding wie eine Seele gebe, die ihr höheres Recht auf Entwicklung und Ausbildung geltend machen könnte. *) „Where liberty abroad walks unconfined even to thy farthest cotts and scatters plenty o'er the shining land.“ Thomson's seasons.

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/122>, abgerufen am 18.12.2024.