Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

braucht und durch die Ernährung wieder ersetzt werden, verliert der
Mensch auch beständig einen Theil jener unorganischen Substanzen
und muß diesen Verlust durch Nahrungsmittel wieder ausgleichen.
Zwischen beiden aufgenommenen Stoffen besteht aber während des
Lebens ein eigenthümliches Verhältniß. Beim Kinde, welches noch
wachsen, seine Organe zum Theil erst entwickeln soll, wird beständig
von beiden Classen von Stoffen, von organischen sowohl wie von un-
organischen, bei Weitem mehr aufgenommen, als abgenutzt; beim
Erwachsenen halten sich Einnahme und Ausgabe gerade das Gleich-
gewicht, im Greisenalter dagegen tritt ein eigenthümliches Mißver-
hältniß ein. Von organischen Stoffen verbraucht der Greis allmälig
immer mehr, als er aus der Nahrung wieder ersetzen kann. Die
Stärke seiner Muskeln schwindet, die Menge des Bluts wird gerin-
ger, er magert ab. Die unorganischen Stoffe werden aber nicht in
gleichem Maße abgenutzt, als sie aus der Nahrung aufgenommen
werden. In dieser Beziehung tritt der Mensch auf die Kindheits-
stufe zurück und wir erhalten eine der früher entwickelten fast gerade
entgegengesetzte Ansicht vom Leben und vom Tode. Immer mehr
und mehr setzen sich erdige Bestandtheile im Menschen an, Organe,
die früher weich und biegsam waren, verknöchern und versagen ih-
ren Dienst, immer schwerer zieht ihn der Staub zum Staube nieder,
bis endlich die leichtbeschwingte Psyche, des Druckes müde, die zu
schwer gewordene Chrysalidenhülle abwirft. Sie überläßt den staub-
gebornen Leib der langsamen Verbrennung, welche wir Verwesung
nennen. Ein Aschenhäufchen bleibt der Erde, der es entlehnt war.
Die Psyche, selbst unsterblich und unverwesbar, kehrt aus der Skla-
verei der Naturgesetze zum Lenker der geistigen Freiheit zurück.


braucht und durch die Ernährung wieder erſetzt werden, verliert der
Menſch auch beſtändig einen Theil jener unorganiſchen Subſtanzen
und muß dieſen Verluſt durch Nahrungsmittel wieder ausgleichen.
Zwiſchen beiden aufgenommenen Stoffen beſteht aber während des
Lebens ein eigenthümliches Verhältniß. Beim Kinde, welches noch
wachſen, ſeine Organe zum Theil erſt entwickeln ſoll, wird beſtändig
von beiden Claſſen von Stoffen, von organiſchen ſowohl wie von un-
organiſchen, bei Weitem mehr aufgenommen, als abgenutzt; beim
Erwachſenen halten ſich Einnahme und Ausgabe gerade das Gleich-
gewicht, im Greiſenalter dagegen tritt ein eigenthümliches Mißver-
hältniß ein. Von organiſchen Stoffen verbraucht der Greis allmälig
immer mehr, als er aus der Nahrung wieder erſetzen kann. Die
Stärke ſeiner Muskeln ſchwindet, die Menge des Bluts wird gerin-
ger, er magert ab. Die unorganiſchen Stoffe werden aber nicht in
gleichem Maße abgenutzt, als ſie aus der Nahrung aufgenommen
werden. In dieſer Beziehung tritt der Menſch auf die Kindheits-
ſtufe zurück und wir erhalten eine der früher entwickelten faſt gerade
entgegengeſetzte Anſicht vom Leben und vom Tode. Immer mehr
und mehr ſetzen ſich erdige Beſtandtheile im Menſchen an, Organe,
die früher weich und biegſam waren, verknöchern und verſagen ih-
ren Dienſt, immer ſchwerer zieht ihn der Staub zum Staube nieder,
bis endlich die leichtbeſchwingte Pſyche, des Druckes müde, die zu
ſchwer gewordene Chryſalidenhülle abwirft. Sie überläßt den ſtaub-
gebornen Leib der langſamen Verbrennung, welche wir Verweſung
nennen. Ein Aſchenhäufchen bleibt der Erde, der es entlehnt war.
Die Pſyche, ſelbſt unſterblich und unverwesbar, kehrt aus der Skla-
verei der Naturgeſetze zum Lenker der geiſtigen Freiheit zurück.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0186" n="170"/>
braucht und durch die Ernährung wieder er&#x017F;etzt werden, verliert der<lb/>
Men&#x017F;ch auch be&#x017F;tändig einen Theil jener unorgani&#x017F;chen Sub&#x017F;tanzen<lb/>
und muß die&#x017F;en Verlu&#x017F;t durch Nahrungsmittel wieder ausgleichen.<lb/>
Zwi&#x017F;chen beiden aufgenommenen Stoffen be&#x017F;teht aber während des<lb/>
Lebens ein eigenthümliches Verhältniß. Beim Kinde, welches noch<lb/>
wach&#x017F;en, &#x017F;eine Organe zum Theil er&#x017F;t entwickeln &#x017F;oll, wird be&#x017F;tändig<lb/>
von beiden Cla&#x017F;&#x017F;en von Stoffen, von organi&#x017F;chen &#x017F;owohl wie von un-<lb/>
organi&#x017F;chen, bei Weitem mehr aufgenommen, als abgenutzt; beim<lb/>
Erwach&#x017F;enen halten &#x017F;ich Einnahme und Ausgabe gerade das Gleich-<lb/>
gewicht, im Grei&#x017F;enalter dagegen tritt ein eigenthümliches Mißver-<lb/>
hältniß ein. Von organi&#x017F;chen Stoffen verbraucht der Greis allmälig<lb/>
immer mehr, als er aus der Nahrung wieder er&#x017F;etzen kann. Die<lb/>
Stärke &#x017F;einer Muskeln &#x017F;chwindet, die Menge des Bluts wird gerin-<lb/>
ger, er magert ab. Die unorgani&#x017F;chen Stoffe werden aber nicht in<lb/>
gleichem Maße abgenutzt, als &#x017F;ie aus der Nahrung aufgenommen<lb/>
werden. In die&#x017F;er Beziehung tritt der Men&#x017F;ch auf die Kindheits-<lb/>
&#x017F;tufe zurück und wir erhalten eine der früher entwickelten fa&#x017F;t gerade<lb/>
entgegenge&#x017F;etzte An&#x017F;icht vom Leben und vom Tode. Immer mehr<lb/>
und mehr &#x017F;etzen &#x017F;ich erdige Be&#x017F;tandtheile im Men&#x017F;chen an, Organe,<lb/>
die früher weich und bieg&#x017F;am waren, verknöchern und ver&#x017F;agen ih-<lb/>
ren Dien&#x017F;t, immer &#x017F;chwerer zieht ihn der Staub zum Staube nieder,<lb/>
bis endlich die leichtbe&#x017F;chwingte P&#x017F;yche, des Druckes müde, die zu<lb/>
&#x017F;chwer gewordene Chry&#x017F;alidenhülle abwirft. Sie überläßt den &#x017F;taub-<lb/>
gebornen Leib der lang&#x017F;amen Verbrennung, welche wir Verwe&#x017F;ung<lb/>
nennen. Ein A&#x017F;chenhäufchen bleibt der Erde, der es entlehnt war.<lb/>
Die P&#x017F;yche, &#x017F;elb&#x017F;t un&#x017F;terblich und unverwesbar, kehrt aus der Skla-<lb/>
verei der Naturge&#x017F;etze zum Lenker der gei&#x017F;tigen Freiheit zurück.</p>
        </div>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0186] braucht und durch die Ernährung wieder erſetzt werden, verliert der Menſch auch beſtändig einen Theil jener unorganiſchen Subſtanzen und muß dieſen Verluſt durch Nahrungsmittel wieder ausgleichen. Zwiſchen beiden aufgenommenen Stoffen beſteht aber während des Lebens ein eigenthümliches Verhältniß. Beim Kinde, welches noch wachſen, ſeine Organe zum Theil erſt entwickeln ſoll, wird beſtändig von beiden Claſſen von Stoffen, von organiſchen ſowohl wie von un- organiſchen, bei Weitem mehr aufgenommen, als abgenutzt; beim Erwachſenen halten ſich Einnahme und Ausgabe gerade das Gleich- gewicht, im Greiſenalter dagegen tritt ein eigenthümliches Mißver- hältniß ein. Von organiſchen Stoffen verbraucht der Greis allmälig immer mehr, als er aus der Nahrung wieder erſetzen kann. Die Stärke ſeiner Muskeln ſchwindet, die Menge des Bluts wird gerin- ger, er magert ab. Die unorganiſchen Stoffe werden aber nicht in gleichem Maße abgenutzt, als ſie aus der Nahrung aufgenommen werden. In dieſer Beziehung tritt der Menſch auf die Kindheits- ſtufe zurück und wir erhalten eine der früher entwickelten faſt gerade entgegengeſetzte Anſicht vom Leben und vom Tode. Immer mehr und mehr ſetzen ſich erdige Beſtandtheile im Menſchen an, Organe, die früher weich und biegſam waren, verknöchern und verſagen ih- ren Dienſt, immer ſchwerer zieht ihn der Staub zum Staube nieder, bis endlich die leichtbeſchwingte Pſyche, des Druckes müde, die zu ſchwer gewordene Chryſalidenhülle abwirft. Sie überläßt den ſtaub- gebornen Leib der langſamen Verbrennung, welche wir Verweſung nennen. Ein Aſchenhäufchen bleibt der Erde, der es entlehnt war. Die Pſyche, ſelbſt unſterblich und unverwesbar, kehrt aus der Skla- verei der Naturgeſetze zum Lenker der geiſtigen Freiheit zurück.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/186
Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/186>, abgerufen am 21.11.2024.