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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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schauungen sammeln, um welche viele Naturforscher sie beneiden
würden.

"In der Mitte des Octobers vorigen Jahres, erzählt der Eine,
durchstrich ich die wunderlieblichen Berge von Morray. Vor mir
lag einer jener stillen, spiegelhellen Gebirgsseen, welche jene Graf-
schaft zieren, an dessen einem Ufer sich eine weite, mit Moos und
Rietgräsern und mit dem weißhäuptigen Wollgrase bedeckte Moor-
niederung hinzog, während das andere Ufer sich in malerischen Ab-
stürzen zu grauen wilden Felsen, spärlich mit Birken und Haselbüschen
besetzt, erhob und zuweilen zu hohen Klippen aufstieg deren Gipfel
die Raben krächzend umkreisten. Der dichte Herbstnebel begann all-
mälig vor der Sonne zu fliehen, die in den leicht bereiften Büschen
und Hecken in tausend Diamanten funkelte. Zu phantastischen Ge-
stalten dicht zusammengeballt zog sich die leichte Dunstschicht durch
die Schluchten der Berge und ließ die benachbarten Hügel im düstern
Braunroth des Haidekrauts erglänzen oder drängte sich höher hinauf
im Gebirge durch die lichten, kräftigen Kämme der schottischen Fich-
ten, die in immer bestimmteren Zügen hervortraten. Lange hatte ich
das Spiel einer besonders wunderlich gestalteten Wolke verfolgt, als
sie plötzlich vom leichten Morgenwinde zusammengewirbelt und zu-
rückgeworfen eine Hügelfläche frei ließ, auf welcher in ruhiger Maje-
stät ein prachtvoller Sechszehnender gelagert war. Mein erster Ge-
danke war mich seinem Anblick zu entziehen, indem ich mich nieder-
warf und rücklings eine kleine Böschung herabkroch bis ich nur noch
die Spitzen seines Geweihs erblicken konnte. Seine Stellung war
die unvortheilhafteste, die sich denken ließ und meine Hoffnung, mich
seiner zu bemächtigen, beruhte nur auf einem kleinen Bach, der sich
zwischen mir und ihm hinschlängelte und sich dann über einen steilen
Absturz in den See ergoß. Mit einem bedeutenden Umweg gelangte
ich unbemerkt in sein Bette, dessen steile Wände mich verbargen, so daß
ich, immer die Spitzen des Geweihs als Zielpuncte im Auge, mich
bis auf etwa 100 Schritte an ihn heranschleichen konnte. Hier hatte
ich den vollen Anblick des schönen Thieres, wie es dalag, hingestreckt

ſchauungen ſammeln, um welche viele Naturforſcher ſie beneiden
würden.

„In der Mitte des Octobers vorigen Jahres, erzählt der Eine,
durchſtrich ich die wunderlieblichen Berge von Morray. Vor mir
lag einer jener ſtillen, ſpiegelhellen Gebirgsſeen, welche jene Graf-
ſchaft zieren, an deſſen einem Ufer ſich eine weite, mit Moos und
Rietgräſern und mit dem weißhäuptigen Wollgraſe bedeckte Moor-
niederung hinzog, während das andere Ufer ſich in maleriſchen Ab-
ſtürzen zu grauen wilden Felſen, ſpärlich mit Birken und Haſelbüſchen
beſetzt, erhob und zuweilen zu hohen Klippen aufſtieg deren Gipfel
die Raben krächzend umkreiſten. Der dichte Herbſtnebel begann all-
mälig vor der Sonne zu fliehen, die in den leicht bereiften Büſchen
und Hecken in tauſend Diamanten funkelte. Zu phantaſtiſchen Ge-
ſtalten dicht zuſammengeballt zog ſich die leichte Dunſtſchicht durch
die Schluchten der Berge und ließ die benachbarten Hügel im düſtern
Braunroth des Haidekrauts erglänzen oder drängte ſich höher hinauf
im Gebirge durch die lichten, kräftigen Kämme der ſchottiſchen Fich-
ten, die in immer beſtimmteren Zügen hervortraten. Lange hatte ich
das Spiel einer beſonders wunderlich geſtalteten Wolke verfolgt, als
ſie plötzlich vom leichten Morgenwinde zuſammengewirbelt und zu-
rückgeworfen eine Hügelfläche frei ließ, auf welcher in ruhiger Maje-
ſtät ein prachtvoller Sechszehnender gelagert war. Mein erſter Ge-
danke war mich ſeinem Anblick zu entziehen, indem ich mich nieder-
warf und rücklings eine kleine Böſchung herabkroch bis ich nur noch
die Spitzen ſeines Geweihs erblicken konnte. Seine Stellung war
die unvortheilhafteſte, die ſich denken ließ und meine Hoffnung, mich
ſeiner zu bemächtigen, beruhte nur auf einem kleinen Bach, der ſich
zwiſchen mir und ihm hinſchlängelte und ſich dann über einen ſteilen
Abſturz in den See ergoß. Mit einem bedeutenden Umweg gelangte
ich unbemerkt in ſein Bette, deſſen ſteile Wände mich verbargen, ſo daß
ich, immer die Spitzen des Geweihs als Zielpuncte im Auge, mich
bis auf etwa 100 Schritte an ihn heranſchleichen konnte. Hier hatte
ich den vollen Anblick des ſchönen Thieres, wie es dalag, hingeſtreckt

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[212/0228] ſchauungen ſammeln, um welche viele Naturforſcher ſie beneiden würden. „In der Mitte des Octobers vorigen Jahres, erzählt der Eine, durchſtrich ich die wunderlieblichen Berge von Morray. Vor mir lag einer jener ſtillen, ſpiegelhellen Gebirgsſeen, welche jene Graf- ſchaft zieren, an deſſen einem Ufer ſich eine weite, mit Moos und Rietgräſern und mit dem weißhäuptigen Wollgraſe bedeckte Moor- niederung hinzog, während das andere Ufer ſich in maleriſchen Ab- ſtürzen zu grauen wilden Felſen, ſpärlich mit Birken und Haſelbüſchen beſetzt, erhob und zuweilen zu hohen Klippen aufſtieg deren Gipfel die Raben krächzend umkreiſten. Der dichte Herbſtnebel begann all- mälig vor der Sonne zu fliehen, die in den leicht bereiften Büſchen und Hecken in tauſend Diamanten funkelte. Zu phantaſtiſchen Ge- ſtalten dicht zuſammengeballt zog ſich die leichte Dunſtſchicht durch die Schluchten der Berge und ließ die benachbarten Hügel im düſtern Braunroth des Haidekrauts erglänzen oder drängte ſich höher hinauf im Gebirge durch die lichten, kräftigen Kämme der ſchottiſchen Fich- ten, die in immer beſtimmteren Zügen hervortraten. Lange hatte ich das Spiel einer beſonders wunderlich geſtalteten Wolke verfolgt, als ſie plötzlich vom leichten Morgenwinde zuſammengewirbelt und zu- rückgeworfen eine Hügelfläche frei ließ, auf welcher in ruhiger Maje- ſtät ein prachtvoller Sechszehnender gelagert war. Mein erſter Ge- danke war mich ſeinem Anblick zu entziehen, indem ich mich nieder- warf und rücklings eine kleine Böſchung herabkroch bis ich nur noch die Spitzen ſeines Geweihs erblicken konnte. Seine Stellung war die unvortheilhafteſte, die ſich denken ließ und meine Hoffnung, mich ſeiner zu bemächtigen, beruhte nur auf einem kleinen Bach, der ſich zwiſchen mir und ihm hinſchlängelte und ſich dann über einen ſteilen Abſturz in den See ergoß. Mit einem bedeutenden Umweg gelangte ich unbemerkt in ſein Bette, deſſen ſteile Wände mich verbargen, ſo daß ich, immer die Spitzen des Geweihs als Zielpuncte im Auge, mich bis auf etwa 100 Schritte an ihn heranſchleichen konnte. Hier hatte ich den vollen Anblick des ſchönen Thieres, wie es dalag, hingeſtreckt

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/228>, abgerufen am 23.11.2024.