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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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tragen unser Erstaunen noch zu steigern. -- Bunt, formen- und far-
benreich ist der Teppich der Natur, aber gewiß nicht aus einzelnen
Lappen regellos zusammengestückt, sondern wie eine Stickerei von
künstlerischen Händen, nach einem schönen Plan gewirkt. Wenn wir
aber uns vorstellen, daß eine mit Sinn und Fassungskraft begabte
Mücke auf einem kostbaren Gobelin umherkröche und aus den farbigen
Pünctchen, die sie einzeln nicht einmal ganz zu übersehen vermag,
sich ein Bild des Ganzen entwerfen, die Zeichnung und Farbengebung
verstehen und beurtheilen sollte, wir würden zugestehen, daß sie das
größte Genie seyn müßte, das je gelebt. Und in wie viel unvortheil-
hafterem Verhältnisse steht der Mensch zur ganzen Erde. Wie Viele
haben hier ihre Beobachtungen zusammentragen müssen, um nur ganz
kleine Theile vorläufig übersehen und erkennen zu lehren, wie viele
Meister werden noch ihr Leben daran setzen müssen, bis uns eine
völlige Kenntniß des Ganzen gewonnen ist. Kaum können wir zur
Zeit mehr thun, als die einzelnen Bilder jener Jäger vermehren und
etwas genauer auszeichnen.

Ein Brauerssohn aus Huntingdon Oliver Cromwell schwang
sich in wenigen Jahren zum unumschränkten Herrscher von Großbrit-
tanien auf, und schrieb selbst dem halben Europa durch die Macht
seines Geistes Gesetze vor. Die Tradition sagt, daß ihn dabei eine
ihm schon in früher Jugend eigne Redensart geführt: "Der kommt
am weitesten, der nicht weiß, wo er hin will." Man kann diesen
Spruch in einer weniger paradoxen Sprache so ausdrücken, daß der
Mensch in seinen Angelegenheiten nur dann etwas Tüchtiges erreicht,
wenn er sich von vorn herein die höchste Aufgabe, das unerreichbare
Ideal als Ziel steckt. In dieser Weise aber können wir auch Crom-
wells
Lebensspruch als Führer in jeder Wissenschaft betrachten und
wir werden finden, daß er auch hier seine Macht keineswegs ver-
leugnet. Im ersten Augenblick mag man freilich glauben, daß es gar
leicht sey, einer solchen Anforderung nachzukommen. Es ist so schwer
nicht sich das ethische, oder wenn man lieber will, das umfassendere
christliche Ideal auszuzeichnen und hinzustellen, aber gleichwohl ge-

tragen unſer Erſtaunen noch zu ſteigern. — Bunt, formen- und far-
benreich iſt der Teppich der Natur, aber gewiß nicht aus einzelnen
Lappen regellos zuſammengeſtückt, ſondern wie eine Stickerei von
künſtleriſchen Händen, nach einem ſchönen Plan gewirkt. Wenn wir
aber uns vorſtellen, daß eine mit Sinn und Faſſungskraft begabte
Mücke auf einem koſtbaren Gobelin umherkröche und aus den farbigen
Pünctchen, die ſie einzeln nicht einmal ganz zu überſehen vermag,
ſich ein Bild des Ganzen entwerfen, die Zeichnung und Farbengebung
verſtehen und beurtheilen ſollte, wir würden zugeſtehen, daß ſie das
größte Genie ſeyn müßte, das je gelebt. Und in wie viel unvortheil-
hafterem Verhältniſſe ſteht der Menſch zur ganzen Erde. Wie Viele
haben hier ihre Beobachtungen zuſammentragen müſſen, um nur ganz
kleine Theile vorläufig überſehen und erkennen zu lehren, wie viele
Meiſter werden noch ihr Leben daran ſetzen müſſen, bis uns eine
völlige Kenntniß des Ganzen gewonnen iſt. Kaum können wir zur
Zeit mehr thun, als die einzelnen Bilder jener Jäger vermehren und
etwas genauer auszeichnen.

Ein Brauersſohn aus Huntingdon Oliver Cromwell ſchwang
ſich in wenigen Jahren zum unumſchränkten Herrſcher von Großbrit-
tanien auf, und ſchrieb ſelbſt dem halben Europa durch die Macht
ſeines Geiſtes Geſetze vor. Die Tradition ſagt, daß ihn dabei eine
ihm ſchon in früher Jugend eigne Redensart geführt: „Der kommt
am weiteſten, der nicht weiß, wo er hin will.“ Man kann dieſen
Spruch in einer weniger paradoxen Sprache ſo ausdrücken, daß der
Menſch in ſeinen Angelegenheiten nur dann etwas Tüchtiges erreicht,
wenn er ſich von vorn herein die höchſte Aufgabe, das unerreichbare
Ideal als Ziel ſteckt. In dieſer Weiſe aber können wir auch Crom-
wells
Lebensſpruch als Führer in jeder Wiſſenſchaft betrachten und
wir werden finden, daß er auch hier ſeine Macht keineswegs ver-
leugnet. Im erſten Augenblick mag man freilich glauben, daß es gar
leicht ſey, einer ſolchen Anforderung nachzukommen. Es iſt ſo ſchwer
nicht ſich das ethiſche, oder wenn man lieber will, das umfaſſendere
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[218/0234] tragen unſer Erſtaunen noch zu ſteigern. — Bunt, formen- und far- benreich iſt der Teppich der Natur, aber gewiß nicht aus einzelnen Lappen regellos zuſammengeſtückt, ſondern wie eine Stickerei von künſtleriſchen Händen, nach einem ſchönen Plan gewirkt. Wenn wir aber uns vorſtellen, daß eine mit Sinn und Faſſungskraft begabte Mücke auf einem koſtbaren Gobelin umherkröche und aus den farbigen Pünctchen, die ſie einzeln nicht einmal ganz zu überſehen vermag, ſich ein Bild des Ganzen entwerfen, die Zeichnung und Farbengebung verſtehen und beurtheilen ſollte, wir würden zugeſtehen, daß ſie das größte Genie ſeyn müßte, das je gelebt. Und in wie viel unvortheil- hafterem Verhältniſſe ſteht der Menſch zur ganzen Erde. Wie Viele haben hier ihre Beobachtungen zuſammentragen müſſen, um nur ganz kleine Theile vorläufig überſehen und erkennen zu lehren, wie viele Meiſter werden noch ihr Leben daran ſetzen müſſen, bis uns eine völlige Kenntniß des Ganzen gewonnen iſt. Kaum können wir zur Zeit mehr thun, als die einzelnen Bilder jener Jäger vermehren und etwas genauer auszeichnen. Ein Brauersſohn aus Huntingdon Oliver Cromwell ſchwang ſich in wenigen Jahren zum unumſchränkten Herrſcher von Großbrit- tanien auf, und ſchrieb ſelbſt dem halben Europa durch die Macht ſeines Geiſtes Geſetze vor. Die Tradition ſagt, daß ihn dabei eine ihm ſchon in früher Jugend eigne Redensart geführt: „Der kommt am weiteſten, der nicht weiß, wo er hin will.“ Man kann dieſen Spruch in einer weniger paradoxen Sprache ſo ausdrücken, daß der Menſch in ſeinen Angelegenheiten nur dann etwas Tüchtiges erreicht, wenn er ſich von vorn herein die höchſte Aufgabe, das unerreichbare Ideal als Ziel ſteckt. In dieſer Weiſe aber können wir auch Crom- wells Lebensſpruch als Führer in jeder Wiſſenſchaft betrachten und wir werden finden, daß er auch hier ſeine Macht keineswegs ver- leugnet. Im erſten Augenblick mag man freilich glauben, daß es gar leicht ſey, einer ſolchen Anforderung nachzukommen. Es iſt ſo ſchwer nicht ſich das ethiſche, oder wenn man lieber will, das umfaſſendere chriſtliche Ideal auszuzeichnen und hinzuſtellen, aber gleichwohl ge-

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/234>, abgerufen am 27.11.2024.