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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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(der Vallisneria spiralis) wahrgenommenen Vorgänge. Die Pflanze
hat zwei verschiedene Arten von Blüthen; die einen, in welchen sich die
Saamen entwickeln, sind lang gestielt und erheben sich an die Ober-
fläche des Wassers, die anderen sind aber kurz gestielt und dadurch am
Grunde gefesselt. Zu einer bestimmten Zeit reißen sich diese Letzteren
vom Stiele los, erheben sich an die Oberfläche und schwimmen zu den
andern Blumen hin, die dann erst fähig werden, ihre Saamen zu
entwickeln.

Die noch durch keine genaue wissenschaftliche Beobachtung in
Schranken gehaltene Phantasie war gleich bei der Hand, aus diesen
beiden Blumen Mann und Weib zu machen und den geheimen Zug
der Liebe, der die Menschenbrust beseligt, auch auf die angeführten
Naturerscheinungen zu übertragen. Kaum war der Gedanke in An-
regung gebracht, so bemächtigte sich die Wissenschaft desselben, führte
ihn ins Einzelne für alle Pflanzen aus, und noch heute nennen wir
darnach die Linne'sche Anordnung der Pflanzen das Sexualsystem.

Leider tritt diesen schönen, besonders von Dichtern oft so zart
ausgesponnenen Träumen die besonnene Wissenschaft mit ihren neuern
Entdeckungen entgegen und weist nach, daß von allen diesen erträum-
ten Aehnlichkeiten mit den ganz anders organisirten Thieren durchaus
auch nichts gegründet sey. Es war insbesondere der Antheil, den ich
an der Fortbildung der Botanik genommen habe, der dieses Resultat
zu Tage legte.

Um aber den wirklichen Vorgang bei der Vermehrung der Ge-
wächse kurz schildern zu können, muß ich an das erinnern, was mir
in einer frühern Vorlesung vorzutragen vergönnt war. Ich hatte
nämlich bemerkt, daß unter Anderm der einzelnen Pflanzenzelle auch
das Vermögen zukomme, in ihrem Innern neue Zellen zu bilden und
so gleichsam sich fortzupflanzen. Die neu entstandenen Zellen haben
aber immer zugleich die Eigenheit, daß sie sich der Zelle, in der sie
entstanden, conform ausbilden und anordnen. Dadurch nun ist bei
allen Pflanzen die Möglichkeit gegeben, daß sich aus jeder von ihren
Zellen, wenn diese in begünstigende Verhältnisse versetzt wird, eine

(der Vallisneria spiralis) wahrgenommenen Vorgänge. Die Pflanze
hat zwei verſchiedene Arten von Blüthen; die einen, in welchen ſich die
Saamen entwickeln, ſind lang geſtielt und erheben ſich an die Ober-
fläche des Waſſers, die anderen ſind aber kurz geſtielt und dadurch am
Grunde gefeſſelt. Zu einer beſtimmten Zeit reißen ſich dieſe Letzteren
vom Stiele los, erheben ſich an die Oberfläche und ſchwimmen zu den
andern Blumen hin, die dann erſt fähig werden, ihre Saamen zu
entwickeln.

Die noch durch keine genaue wiſſenſchaftliche Beobachtung in
Schranken gehaltene Phantaſie war gleich bei der Hand, aus dieſen
beiden Blumen Mann und Weib zu machen und den geheimen Zug
der Liebe, der die Menſchenbruſt beſeligt, auch auf die angeführten
Naturerſcheinungen zu übertragen. Kaum war der Gedanke in An-
regung gebracht, ſo bemächtigte ſich die Wiſſenſchaft deſſelben, führte
ihn ins Einzelne für alle Pflanzen aus, und noch heute nennen wir
darnach die Linné'ſche Anordnung der Pflanzen das Sexualſyſtem.

Leider tritt dieſen ſchönen, beſonders von Dichtern oft ſo zart
ausgeſponnenen Träumen die beſonnene Wiſſenſchaft mit ihren neuern
Entdeckungen entgegen und weiſt nach, daß von allen dieſen erträum-
ten Aehnlichkeiten mit den ganz anders organiſirten Thieren durchaus
auch nichts gegründet ſey. Es war insbeſondere der Antheil, den ich
an der Fortbildung der Botanik genommen habe, der dieſes Reſultat
zu Tage legte.

Um aber den wirklichen Vorgang bei der Vermehrung der Ge-
wächſe kurz ſchildern zu können, muß ich an das erinnern, was mir
in einer frühern Vorleſung vorzutragen vergönnt war. Ich hatte
nämlich bemerkt, daß unter Anderm der einzelnen Pflanzenzelle auch
das Vermögen zukomme, in ihrem Innern neue Zellen zu bilden und
ſo gleichſam ſich fortzupflanzen. Die neu entſtandenen Zellen haben
aber immer zugleich die Eigenheit, daß ſie ſich der Zelle, in der ſie
entſtanden, conform ausbilden und anordnen. Dadurch nun iſt bei
allen Pflanzen die Möglichkeit gegeben, daß ſich aus jeder von ihren
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[62/0078] (der Vallisneria spiralis) wahrgenommenen Vorgänge. Die Pflanze hat zwei verſchiedene Arten von Blüthen; die einen, in welchen ſich die Saamen entwickeln, ſind lang geſtielt und erheben ſich an die Ober- fläche des Waſſers, die anderen ſind aber kurz geſtielt und dadurch am Grunde gefeſſelt. Zu einer beſtimmten Zeit reißen ſich dieſe Letzteren vom Stiele los, erheben ſich an die Oberfläche und ſchwimmen zu den andern Blumen hin, die dann erſt fähig werden, ihre Saamen zu entwickeln. Die noch durch keine genaue wiſſenſchaftliche Beobachtung in Schranken gehaltene Phantaſie war gleich bei der Hand, aus dieſen beiden Blumen Mann und Weib zu machen und den geheimen Zug der Liebe, der die Menſchenbruſt beſeligt, auch auf die angeführten Naturerſcheinungen zu übertragen. Kaum war der Gedanke in An- regung gebracht, ſo bemächtigte ſich die Wiſſenſchaft deſſelben, führte ihn ins Einzelne für alle Pflanzen aus, und noch heute nennen wir darnach die Linné'ſche Anordnung der Pflanzen das Sexualſyſtem. Leider tritt dieſen ſchönen, beſonders von Dichtern oft ſo zart ausgeſponnenen Träumen die beſonnene Wiſſenſchaft mit ihren neuern Entdeckungen entgegen und weiſt nach, daß von allen dieſen erträum- ten Aehnlichkeiten mit den ganz anders organiſirten Thieren durchaus auch nichts gegründet ſey. Es war insbeſondere der Antheil, den ich an der Fortbildung der Botanik genommen habe, der dieſes Reſultat zu Tage legte. Um aber den wirklichen Vorgang bei der Vermehrung der Ge- wächſe kurz ſchildern zu können, muß ich an das erinnern, was mir in einer frühern Vorleſung vorzutragen vergönnt war. Ich hatte nämlich bemerkt, daß unter Anderm der einzelnen Pflanzenzelle auch das Vermögen zukomme, in ihrem Innern neue Zellen zu bilden und ſo gleichſam ſich fortzupflanzen. Die neu entſtandenen Zellen haben aber immer zugleich die Eigenheit, daß ſie ſich der Zelle, in der ſie entſtanden, conform ausbilden und anordnen. Dadurch nun iſt bei allen Pflanzen die Möglichkeit gegeben, daß ſich aus jeder von ihren Zellen, wenn dieſe in begünſtigende Verhältniſſe verſetzt wird, eine

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/78>, abgerufen am 04.12.2024.