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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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Vor mehreren Jahren stand ich in einem sehr freundschaftlichen
Verhältniß zu dem dirigirenden Arzte an einer großen Irrenanstalt
und ich pflegte die mir deshalb gestattete Freiheit, das Haus und
seine Bewohner nach Gefallen zu besuchen, fleißig zu benutzen. Eines
Morgens trat ich in das Zimmer eines Wahnsinnigen, dessen bestän-
dig wechselnde seltsame Vorstellungsspiele mich besonders interessirten.
Ich fand ihn am Ofen niedergekauert, mit gespannter Aufmerksamkeit
einen Tiegel beobachtend dessen Inhalt er sorglich umrührte. Bei dem
Geräusch meines Eintrittes drehte er sich um und flüsterte mit wich-
tiger Miene: "Bst, Bst, stören Sie mir meine kleinen Schweine
nicht, sie sind gleich fertig." Voll Neugier zu wissen, wohin sich nun
wieder sein abnormer Gedankengang verirrt habe, trat ich näher.
"Sie sehen", sagte er leise, mit dem geheimnißvollen Ausdruck eines
Alchymisten, "ich habe hier eine Rothwurst, Schweineknöchelchen und
Borsten im Tiegel, hier ist Alles was nöthig ist, es fehlt nur noch die
Lebenswärme und das junge Schwein ist wieder fertig hergestellt." --
So lächerlich wie mir damals dieser Einfall vorkam, so ernst bin ich
in meinem späteren Leben wieder an diesen Wahnsinnigen erinnert
worden, wenn ich über gewisse Irrwege der Wissenschaft nachdachte,
und wenn die bloße Form des Irrthums hier das Entscheidende wäre,
so müßten selbst manche ausgezeichnete Naturforscher unserer Tage
die enge Zelle meines unglücklichen Mahlberg theilen. --

Der Irrthum allgemein ausgesprochen lautet nämlich so, daß
eine bestimmte Mischung bestimmter Stoffe schon ein vollkommner
individualisirter Naturkörper sey, während doch zweierlei zusammen-

Vor mehreren Jahren ſtand ich in einem ſehr freundſchaftlichen
Verhältniß zu dem dirigirenden Arzte an einer großen Irrenanſtalt
und ich pflegte die mir deshalb geſtattete Freiheit, das Haus und
ſeine Bewohner nach Gefallen zu beſuchen, fleißig zu benutzen. Eines
Morgens trat ich in das Zimmer eines Wahnſinnigen, deſſen beſtän-
dig wechſelnde ſeltſame Vorſtellungsſpiele mich beſonders intereſſirten.
Ich fand ihn am Ofen niedergekauert, mit geſpannter Aufmerkſamkeit
einen Tiegel beobachtend deſſen Inhalt er ſorglich umrührte. Bei dem
Geräuſch meines Eintrittes drehte er ſich um und flüſterte mit wich-
tiger Miene: „Bſt, Bſt, ſtören Sie mir meine kleinen Schweine
nicht, ſie ſind gleich fertig.“ Voll Neugier zu wiſſen, wohin ſich nun
wieder ſein abnormer Gedankengang verirrt habe, trat ich näher.
„Sie ſehen“, ſagte er leiſe, mit dem geheimnißvollen Ausdruck eines
Alchymiſten, „ich habe hier eine Rothwurſt, Schweineknöchelchen und
Borſten im Tiegel, hier iſt Alles was nöthig iſt, es fehlt nur noch die
Lebenswärme und das junge Schwein iſt wieder fertig hergeſtellt.“ —
So lächerlich wie mir damals dieſer Einfall vorkam, ſo ernſt bin ich
in meinem ſpäteren Leben wieder an dieſen Wahnſinnigen erinnert
worden, wenn ich über gewiſſe Irrwege der Wiſſenſchaft nachdachte,
und wenn die bloße Form des Irrthums hier das Entſcheidende wäre,
ſo müßten ſelbſt manche ausgezeichnete Naturforſcher unſerer Tage
die enge Zelle meines unglücklichen Mahlberg theilen. —

Der Irrthum allgemein ausgeſprochen lautet nämlich ſo, daß
eine beſtimmte Miſchung beſtimmter Stoffe ſchon ein vollkommner
individualiſirter Naturkörper ſey, während doch zweierlei zuſammen-

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[[77]/0093] Vor mehreren Jahren ſtand ich in einem ſehr freundſchaftlichen Verhältniß zu dem dirigirenden Arzte an einer großen Irrenanſtalt und ich pflegte die mir deshalb geſtattete Freiheit, das Haus und ſeine Bewohner nach Gefallen zu beſuchen, fleißig zu benutzen. Eines Morgens trat ich in das Zimmer eines Wahnſinnigen, deſſen beſtän- dig wechſelnde ſeltſame Vorſtellungsſpiele mich beſonders intereſſirten. Ich fand ihn am Ofen niedergekauert, mit geſpannter Aufmerkſamkeit einen Tiegel beobachtend deſſen Inhalt er ſorglich umrührte. Bei dem Geräuſch meines Eintrittes drehte er ſich um und flüſterte mit wich- tiger Miene: „Bſt, Bſt, ſtören Sie mir meine kleinen Schweine nicht, ſie ſind gleich fertig.“ Voll Neugier zu wiſſen, wohin ſich nun wieder ſein abnormer Gedankengang verirrt habe, trat ich näher. „Sie ſehen“, ſagte er leiſe, mit dem geheimnißvollen Ausdruck eines Alchymiſten, „ich habe hier eine Rothwurſt, Schweineknöchelchen und Borſten im Tiegel, hier iſt Alles was nöthig iſt, es fehlt nur noch die Lebenswärme und das junge Schwein iſt wieder fertig hergeſtellt.“ — So lächerlich wie mir damals dieſer Einfall vorkam, ſo ernſt bin ich in meinem ſpäteren Leben wieder an dieſen Wahnſinnigen erinnert worden, wenn ich über gewiſſe Irrwege der Wiſſenſchaft nachdachte, und wenn die bloße Form des Irrthums hier das Entſcheidende wäre, ſo müßten ſelbſt manche ausgezeichnete Naturforſcher unſerer Tage die enge Zelle meines unglücklichen Mahlberg theilen. — Der Irrthum allgemein ausgeſprochen lautet nämlich ſo, daß eine beſtimmte Miſchung beſtimmter Stoffe ſchon ein vollkommner individualiſirter Naturkörper ſey, während doch zweierlei zuſammen-

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. [77]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/93>, abgerufen am 04.12.2024.