der logischen Analyse die lyrische Poesie. In dieser herrscht eine so freie Gedankenbewegung, daß es schwer hält zu bestimmen, was Haupt- und Nebengedanke und bloßes Darstellungsmittel ist. Dieß hat seinen lezten Grund darin, daß in der lyrischen Poesie, wo es darauf ankommt, die Bewegung des unmittel- baren Selbstbewußtseins auszudrücken, der Gedanke selbst ei- gentlich nur Darstellungsmittel ist. Sind aber alle Gedanken nur Darstellungsmittel, so verschwindet der relative Gegensaz zwischen Haupt- und Nebengedanken. Ebenso verschwindet die- ser Gegensaz nur auf entgegengesezte Weise da, wo alle Ge- danken Hauptgedanken sind, d. i. in der streng wissenschaftlich systematischen Darstellung. Hier ist Ein Gedanke die unmittel- bare Form des Ganzen, und alles Einzelne integrirender Theil desselben. So haben wir die beiden Endpunkte für unseren Kanon, wo er den geringsten Werth zu haben scheint. Aber sie sind am meisten geeignet, die Anwendbarkeit der Theorie von den entgegengesezten Punkten aus deutlich zu machen.
Die hermeneutische Aufgabe ist bei der lyrischen Poesie be- sonders schwierig. Der lyrische Dichter ist in vollkommen freier Gedankenbewegung, der Leser aber nicht immer lyrischer Leser, und in dem Grade unvermögend aus seinem eigenen Bewußt- sein das lyrische Gedicht nachzuconstruiren. Der aufgestellte her- meneutische Kanon beruht auf der Voraussezung eines gebun- denen Gedankenganges, ist also insofern nicht unmittelbar an- wendbar auf die lyrische Poesie, weil hier die Ungebundenheit herrscht. Wie ist nun zu verfahren? Die vorläufige Übersicht eines lyrischen Produkts giebt uns zwar keinen Unterschied von Haupt- und Nebengedanken, aber sie hebt doch manches her- vor, was uns gewiß wird. Dieß ist aber zunächst das was als Negation des gebundenen Gedankenganges erscheint, d. h. was sich als Sprung und als Wendepunkt darstellt. Dieß führt aber wieder auf das Gebundene zurück, wovon auch die freieste Gedankenbewegung sich nicht ganz frei machen kann. Die orga- nische Form im lyrischen Saze ist wesentliche dieselbe, ebenso die
der logiſchen Analyſe die lyriſche Poeſie. In dieſer herrſcht eine ſo freie Gedankenbewegung, daß es ſchwer haͤlt zu beſtimmen, was Haupt- und Nebengedanke und bloßes Darſtellungsmittel iſt. Dieß hat ſeinen lezten Grund darin, daß in der lyriſchen Poeſie, wo es darauf ankommt, die Bewegung des unmittel- baren Selbſtbewußtſeins auszudruͤcken, der Gedanke ſelbſt ei- gentlich nur Darſtellungsmittel iſt. Sind aber alle Gedanken nur Darſtellungsmittel, ſo verſchwindet der relative Gegenſaz zwiſchen Haupt- und Nebengedanken. Ebenſo verſchwindet die- ſer Gegenſaz nur auf entgegengeſezte Weiſe da, wo alle Ge- danken Hauptgedanken ſind, d. i. in der ſtreng wiſſenſchaftlich ſyſtematiſchen Darſtellung. Hier iſt Ein Gedanke die unmittel- bare Form des Ganzen, und alles Einzelne integrirender Theil deſſelben. So haben wir die beiden Endpunkte fuͤr unſeren Kanon, wo er den geringſten Werth zu haben ſcheint. Aber ſie ſind am meiſten geeignet, die Anwendbarkeit der Theorie von den entgegengeſezten Punkten aus deutlich zu machen.
Die hermeneutiſche Aufgabe iſt bei der lyriſchen Poeſie be- ſonders ſchwierig. Der lyriſche Dichter iſt in vollkommen freier Gedankenbewegung, der Leſer aber nicht immer lyriſcher Leſer, und in dem Grade unvermoͤgend aus ſeinem eigenen Bewußt- ſein das lyriſche Gedicht nachzuconſtruiren. Der aufgeſtellte her- meneutiſche Kanon beruht auf der Vorausſezung eines gebun- denen Gedankenganges, iſt alſo inſofern nicht unmittelbar an- wendbar auf die lyriſche Poeſie, weil hier die Ungebundenheit herrſcht. Wie iſt nun zu verfahren? Die vorlaͤufige Überſicht eines lyriſchen Produkts giebt uns zwar keinen Unterſchied von Haupt- und Nebengedanken, aber ſie hebt doch manches her- vor, was uns gewiß wird. Dieß iſt aber zunaͤchſt das was als Negation des gebundenen Gedankenganges erſcheint, d. h. was ſich als Sprung und als Wendepunkt darſtellt. Dieß fuͤhrt aber wieder auf das Gebundene zuruͤck, wovon auch die freieſte Gedankenbewegung ſich nicht ganz frei machen kann. Die orga- niſche Form im lyriſchen Saze iſt weſentliche dieſelbe, ebenſo die
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der logiſchen Analyſe die lyriſche Poeſie. In dieſer herrſcht eine
ſo freie Gedankenbewegung, daß es ſchwer haͤlt zu beſtimmen,
was Haupt- und Nebengedanke und bloßes Darſtellungsmittel
iſt. Dieß hat ſeinen lezten Grund darin, daß in der lyriſchen
Poeſie, wo es darauf ankommt, die Bewegung des unmittel-
baren Selbſtbewußtſeins auszudruͤcken, der Gedanke ſelbſt ei-
gentlich nur Darſtellungsmittel iſt. Sind aber alle Gedanken
nur Darſtellungsmittel, ſo verſchwindet der relative Gegenſaz
zwiſchen Haupt- und Nebengedanken. Ebenſo verſchwindet die-
ſer Gegenſaz nur auf entgegengeſezte Weiſe da, wo alle Ge-
danken Hauptgedanken ſind, d. i. in der ſtreng wiſſenſchaftlich
ſyſtematiſchen Darſtellung. Hier iſt Ein Gedanke die unmittel-
bare Form des Ganzen, und alles Einzelne integrirender Theil
deſſelben. So haben wir die beiden Endpunkte fuͤr unſeren
Kanon, wo er den geringſten Werth zu haben ſcheint. Aber ſie
ſind am meiſten geeignet, die Anwendbarkeit der Theorie von
den entgegengeſezten Punkten aus deutlich zu machen.
Die hermeneutiſche Aufgabe iſt bei der lyriſchen Poeſie be-
ſonders ſchwierig. Der lyriſche Dichter iſt in vollkommen freier
Gedankenbewegung, der Leſer aber nicht immer lyriſcher Leſer,
und in dem Grade unvermoͤgend aus ſeinem eigenen Bewußt-
ſein das lyriſche Gedicht nachzuconſtruiren. Der aufgeſtellte her-
meneutiſche Kanon beruht auf der Vorausſezung eines gebun-
denen Gedankenganges, iſt alſo inſofern nicht unmittelbar an-
wendbar auf die lyriſche Poeſie, weil hier die Ungebundenheit
herrſcht. Wie iſt nun zu verfahren? Die vorlaͤufige Überſicht
eines lyriſchen Produkts giebt uns zwar keinen Unterſchied von
Haupt- und Nebengedanken, aber ſie hebt doch manches her-
vor, was uns gewiß wird. Dieß iſt aber zunaͤchſt das was als
Negation des gebundenen Gedankenganges erſcheint, d. h. was
ſich als Sprung und als Wendepunkt darſtellt. Dieß fuͤhrt
aber wieder auf das Gebundene zuruͤck, wovon auch die freieſte
Gedankenbewegung ſich nicht ganz frei machen kann. Die orga-
niſche Form im lyriſchen Saze iſt weſentliche dieſelbe, ebenſo die
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/120>, abgerufen am 04.12.2024.
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