fortgesezten Lesens ganz enthalten. Die sprachliche Aufgabe läßt sich, wenn man einzelnes rein lexikalisch oder grammatisch verfährt, bis auf einen gewissen Punkt isoliren. Allein sobald man an das Verstehen eines Ganzen geht, an ein zusammenhängendes Lesen, ist die Isolirung der sprachlichen Seite unmöglich. Die gramma- tische Auslegung getrennt zu vollführen, ist eine bloße Fiction.
Bei dem Briefe an die Römer kann man als anerkannt an- sehen, daß die psychologische Auslegung ihr Werk noch nicht voll- bracht hat. Es giebt noch viele Stellen, deren Zusammenhang streitig ist. Haben wir durch Zusammenstellung der Hauptele- mente des Briefes in allem ihren Vorkommen den Gesammtwerth jedes Ausdrucks und seine Differenzen bestimmt, dann kann entschieden werden, ob z. B. manche schwierige Fragen von dem Apostel selbst gestellt oder ihm fremd sind. Im ersteren Falle müßte der Localwerth der darin vorkommenden Ausdrücke mit allen anderen Stellen übereinstimmen, im anderen Falle ver- schieden sein, so daß die Fragen als Einwürfe der Gegner er- scheinen. Bei dieser Untersuchung ergänzen sich die grammatische und psychologische Seite gegenseitig.
Wir machen einen relativen Gegensaz zwischen leichteren und schwereren Gedankenverbindungen. Die subjective Schwierigkeit kann so weit gehen, daß man sagt, ich kann mir nicht denken, daß einer so combinirt. Bis die Unmöglichkeit einer andern Com- bination nachgewiesen ist, ist man nicht zufrieden. Ist dann aber die grammatische Auslegung vollendet und sicher, so wird man dadurch genöthigt anzunehmen, daß es eine solche Combination giebt. So bestimmt die grammatische Auslegung die psychologi- sche. Aber eben so kann der Fall eines grammatischen Räthsels eintreten, so daß Jemand sagt, ich kann nicht glauben, daß ein Wort den Werth hat, den es doch zu haben scheint, bis die Unmög- lichkeit nachgewiesen ist, einen anderen Werth zu finden. Hie ent- scheidet denn die psychologische Construction und nöthigt, wenn sie voll- endet und sicher ist, zur Anerkennung des bezweifelten Localwerthes.
fortgeſezten Leſens ganz enthalten. Die ſprachliche Aufgabe laͤßt ſich, wenn man einzelnes rein lexikaliſch oder grammatiſch verfaͤhrt, bis auf einen gewiſſen Punkt iſoliren. Allein ſobald man an das Verſtehen eines Ganzen geht, an ein zuſammenhaͤngendes Leſen, iſt die Iſolirung der ſprachlichen Seite unmoͤglich. Die gramma- tiſche Auslegung getrennt zu vollfuͤhren, iſt eine bloße Fiction.
Bei dem Briefe an die Roͤmer kann man als anerkannt an- ſehen, daß die pſychologiſche Auslegung ihr Werk noch nicht voll- bracht hat. Es giebt noch viele Stellen, deren Zuſammenhang ſtreitig iſt. Haben wir durch Zuſammenſtellung der Hauptele- mente des Briefes in allem ihren Vorkommen den Geſammtwerth jedes Ausdrucks und ſeine Differenzen beſtimmt, dann kann entſchieden werden, ob z. B. manche ſchwierige Fragen von dem Apoſtel ſelbſt geſtellt oder ihm fremd ſind. Im erſteren Falle muͤßte der Localwerth der darin vorkommenden Ausdruͤcke mit allen anderen Stellen uͤbereinſtimmen, im anderen Falle ver- ſchieden ſein, ſo daß die Fragen als Einwuͤrfe der Gegner er- ſcheinen. Bei dieſer Unterſuchung ergaͤnzen ſich die grammatiſche und pſychologiſche Seite gegenſeitig.
Wir machen einen relativen Gegenſaz zwiſchen leichteren und ſchwereren Gedankenverbindungen. Die ſubjective Schwierigkeit kann ſo weit gehen, daß man ſagt, ich kann mir nicht denken, daß einer ſo combinirt. Bis die Unmoͤglichkeit einer andern Com- bination nachgewieſen iſt, iſt man nicht zufrieden. Iſt dann aber die grammatiſche Auslegung vollendet und ſicher, ſo wird man dadurch genoͤthigt anzunehmen, daß es eine ſolche Combination giebt. So beſtimmt die grammatiſche Auslegung die pſychologi- ſche. Aber eben ſo kann der Fall eines grammatiſchen Raͤthſels eintreten, ſo daß Jemand ſagt, ich kann nicht glauben, daß ein Wort den Werth hat, den es doch zu haben ſcheint, bis die Unmoͤg- lichkeit nachgewieſen iſt, einen anderen Werth zu finden. Hie ent- ſcheidet denn die pſychologiſche Conſtruction und noͤthigt, wenn ſie voll- endet und ſicher iſt, zur Anerkennung des bezweifelten Localwerthes.
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fortgeſezten Leſens ganz enthalten. Die ſprachliche Aufgabe laͤßt
ſich, wenn man einzelnes rein lexikaliſch oder grammatiſch verfaͤhrt,
bis auf einen gewiſſen Punkt iſoliren. Allein ſobald man an das
Verſtehen eines Ganzen geht, an ein zuſammenhaͤngendes Leſen,
iſt die Iſolirung der ſprachlichen Seite unmoͤglich. Die gramma-
tiſche Auslegung getrennt zu vollfuͤhren, iſt eine bloße Fiction.
Bei dem Briefe an die Roͤmer kann man als anerkannt an-
ſehen, daß die pſychologiſche Auslegung ihr Werk noch nicht voll-
bracht hat. Es giebt noch viele Stellen, deren Zuſammenhang
ſtreitig iſt. Haben wir durch Zuſammenſtellung der Hauptele-
mente des Briefes in allem ihren Vorkommen den Geſammtwerth
jedes Ausdrucks und ſeine Differenzen beſtimmt, dann kann
entſchieden werden, ob z. B. manche ſchwierige Fragen von
dem Apoſtel ſelbſt geſtellt oder ihm fremd ſind. Im erſteren
Falle muͤßte der Localwerth der darin vorkommenden Ausdruͤcke
mit allen anderen Stellen uͤbereinſtimmen, im anderen Falle ver-
ſchieden ſein, ſo daß die Fragen als Einwuͤrfe der Gegner er-
ſcheinen. Bei dieſer Unterſuchung ergaͤnzen ſich die grammatiſche
und pſychologiſche Seite gegenſeitig.
Wir machen einen relativen Gegenſaz zwiſchen leichteren und
ſchwereren Gedankenverbindungen. Die ſubjective Schwierigkeit
kann ſo weit gehen, daß man ſagt, ich kann mir nicht denken,
daß einer ſo combinirt. Bis die Unmoͤglichkeit einer andern Com-
bination nachgewieſen iſt, iſt man nicht zufrieden. Iſt dann aber
die grammatiſche Auslegung vollendet und ſicher, ſo wird man
dadurch genoͤthigt anzunehmen, daß es eine ſolche Combination
giebt. So beſtimmt die grammatiſche Auslegung die pſychologi-
ſche. Aber eben ſo kann der Fall eines grammatiſchen Raͤthſels
eintreten, ſo daß Jemand ſagt, ich kann nicht glauben, daß ein
Wort den Werth hat, den es doch zu haben ſcheint, bis die Unmoͤg-
lichkeit nachgewieſen iſt, einen anderen Werth zu finden. Hie ent-
ſcheidet denn die pſychologiſche Conſtruction und noͤthigt, wenn ſie voll-
endet und ſicher iſt, zur Anerkennung des bezweifelten Localwerthes.
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/166>, abgerufen am 04.12.2024.
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