Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

keit seines Verfassers, so müßte das Gebiet, wozu es gehört,
mechanisirt sein. In feststehenden Formen nähert man sich sol-
chem mechanisirten Gebiete. Je bestimmter die Geseze einer Form
sind, desto leerer ist die Produktion von Eigenthümlichkeit. So
steht das individuelle Leben dem Mechanisirten gegenüber. Aber
das Verhältniß ist in den Schriften verschieden. Rein tritt das
Individuelle nie zurück.

Hier kommen wir aber in Verlegenheit in Beziehung auf
das, was sich in der Theorie der Kunst geltend gemacht hat.
Denke man sich den Fall der alten Tragödie. Hier ist die Form
auf eine gewisse Weise und in einem bestimmten Grade bestimmt.
Haben mehrere Dichter denselben Stoff neben einander zu bearbei-
ten, so werden ihre Dispositionen sehr ähnlich sein. Je größer die
Differenz ist, desto mehr wird auf der einen oder andern Seite
größere oder geringere Unvollkommenheit sein. Welches ist nun
aber der Grund der Verschiedenheit? Indem wir das Ganze auf
einen Willensakt der Verfasser zurückführen, fragt sich, was hat
der eine und der andere gewollt? Die Beziehungen von Stoff und
Form sind dabei nur äußerlich. Wollte man sagen, der eine oder
andere habe dabei einen bestimmten politischen oder moralischen
Zweck gehabt, so würde die Kunsttheorie einwenden, dadurch sei
der reine Charakter des Kunstwerks verlezt, ein Kunstwerk müsse
keinen bestimmten Zweck haben. Ist diese Theorie richtig, so
würde man nur sagen dürfen, es könne eine bestimmte Richtung
zum Grunde liegen, aber kein bestimmter Zweck. Dieß gilt aber
nur sofern als das auszulegende Werk ein reines Kunstwerk ist, denn
da bleibt nichts übrig, es geht alles in Stoff und Form auf.
Soll der Werth einer Schrift der eines reinen Kunstwerks sein,
so darf auch nichts anderes in den Keimentschluß gesezt werden,
als die reine Selbstmanifestation in der gegenseitigen Correspon-
denz von Form und Inhalt. So entsteht aber die Frage für die
Hermeneutik, ob ein Werk als Kunstwerk angesehen sein wolle oder
nicht? Wird dieß nun durch die Form bestimmt oder nicht?
Hat sich in einem bestimmten Sprach- und Nationalgebiete die

11*

keit ſeines Verfaſſers, ſo muͤßte das Gebiet, wozu es gehoͤrt,
mechaniſirt ſein. In feſtſtehenden Formen naͤhert man ſich ſol-
chem mechaniſirten Gebiete. Je beſtimmter die Geſeze einer Form
ſind, deſto leerer iſt die Produktion von Eigenthuͤmlichkeit. So
ſteht das individuelle Leben dem Mechaniſirten gegenuͤber. Aber
das Verhaͤltniß iſt in den Schriften verſchieden. Rein tritt das
Individuelle nie zuruͤck.

Hier kommen wir aber in Verlegenheit in Beziehung auf
das, was ſich in der Theorie der Kunſt geltend gemacht hat.
Denke man ſich den Fall der alten Tragoͤdie. Hier iſt die Form
auf eine gewiſſe Weiſe und in einem beſtimmten Grade beſtimmt.
Haben mehrere Dichter denſelben Stoff neben einander zu bearbei-
ten, ſo werden ihre Dispoſitionen ſehr aͤhnlich ſein. Je groͤßer die
Differenz iſt, deſto mehr wird auf der einen oder andern Seite
groͤßere oder geringere Unvollkommenheit ſein. Welches iſt nun
aber der Grund der Verſchiedenheit? Indem wir das Ganze auf
einen Willensakt der Verfaſſer zuruͤckfuͤhren, fragt ſich, was hat
der eine und der andere gewollt? Die Beziehungen von Stoff und
Form ſind dabei nur aͤußerlich. Wollte man ſagen, der eine oder
andere habe dabei einen beſtimmten politiſchen oder moraliſchen
Zweck gehabt, ſo wuͤrde die Kunſttheorie einwenden, dadurch ſei
der reine Charakter des Kunſtwerks verlezt, ein Kunſtwerk muͤſſe
keinen beſtimmten Zweck haben. Iſt dieſe Theorie richtig, ſo
wuͤrde man nur ſagen duͤrfen, es koͤnne eine beſtimmte Richtung
zum Grunde liegen, aber kein beſtimmter Zweck. Dieß gilt aber
nur ſofern als das auszulegende Werk ein reines Kunſtwerk iſt, denn
da bleibt nichts uͤbrig, es geht alles in Stoff und Form auf.
Soll der Werth einer Schrift der eines reinen Kunſtwerks ſein,
ſo darf auch nichts anderes in den Keimentſchluß geſezt werden,
als die reine Selbſtmanifeſtation in der gegenſeitigen Correſpon-
denz von Form und Inhalt. So entſteht aber die Frage fuͤr die
Hermeneutik, ob ein Werk als Kunſtwerk angeſehen ſein wolle oder
nicht? Wird dieß nun durch die Form beſtimmt oder nicht?
Hat ſich in einem beſtimmten Sprach- und Nationalgebiete die

11*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0187" n="163"/>
keit &#x017F;eines Verfa&#x017F;&#x017F;ers, &#x017F;o mu&#x0364;ßte das Gebiet, wozu es geho&#x0364;rt,<lb/>
mechani&#x017F;irt &#x017F;ein. In fe&#x017F;t&#x017F;tehenden Formen na&#x0364;hert man &#x017F;ich &#x017F;ol-<lb/>
chem mechani&#x017F;irten Gebiete. Je be&#x017F;timmter die Ge&#x017F;eze einer Form<lb/>
&#x017F;ind, de&#x017F;to leerer i&#x017F;t die Produktion von Eigenthu&#x0364;mlichkeit. So<lb/>
&#x017F;teht das individuelle Leben dem Mechani&#x017F;irten gegenu&#x0364;ber. Aber<lb/>
das Verha&#x0364;ltniß i&#x017F;t in den Schriften ver&#x017F;chieden. Rein tritt das<lb/>
Individuelle nie zuru&#x0364;ck.</p><lb/>
              <p>Hier kommen wir aber in Verlegenheit in Beziehung auf<lb/>
das, was &#x017F;ich in der Theorie der Kun&#x017F;t geltend gemacht hat.<lb/>
Denke man &#x017F;ich den Fall der alten Trago&#x0364;die. Hier i&#x017F;t die Form<lb/>
auf eine gewi&#x017F;&#x017F;e Wei&#x017F;e und in einem be&#x017F;timmten Grade be&#x017F;timmt.<lb/>
Haben mehrere Dichter den&#x017F;elben Stoff neben einander zu bearbei-<lb/>
ten, &#x017F;o werden ihre Dispo&#x017F;itionen &#x017F;ehr a&#x0364;hnlich &#x017F;ein. Je gro&#x0364;ßer die<lb/>
Differenz i&#x017F;t, de&#x017F;to mehr wird auf der einen oder andern Seite<lb/>
gro&#x0364;ßere oder geringere Unvollkommenheit &#x017F;ein. Welches i&#x017F;t nun<lb/>
aber der Grund der Ver&#x017F;chiedenheit? Indem wir das Ganze auf<lb/>
einen Willensakt der Verfa&#x017F;&#x017F;er zuru&#x0364;ckfu&#x0364;hren, fragt &#x017F;ich, was hat<lb/>
der eine und der andere gewollt? Die Beziehungen von Stoff und<lb/>
Form &#x017F;ind dabei nur a&#x0364;ußerlich. Wollte man &#x017F;agen, der eine oder<lb/>
andere habe dabei einen be&#x017F;timmten politi&#x017F;chen oder morali&#x017F;chen<lb/>
Zweck gehabt, &#x017F;o wu&#x0364;rde die Kun&#x017F;ttheorie einwenden, dadurch &#x017F;ei<lb/>
der reine Charakter des Kun&#x017F;twerks verlezt, ein Kun&#x017F;twerk mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e<lb/>
keinen be&#x017F;timmten Zweck haben. I&#x017F;t die&#x017F;e Theorie richtig, &#x017F;o<lb/>
wu&#x0364;rde man nur &#x017F;agen du&#x0364;rfen, es ko&#x0364;nne eine be&#x017F;timmte Richtung<lb/>
zum Grunde liegen, aber kein be&#x017F;timmter Zweck. Dieß gilt aber<lb/>
nur &#x017F;ofern als das auszulegende Werk ein reines Kun&#x017F;twerk i&#x017F;t, denn<lb/>
da bleibt nichts u&#x0364;brig, es geht alles in Stoff und Form auf.<lb/>
Soll der Werth einer Schrift der eines reinen Kun&#x017F;twerks &#x017F;ein,<lb/>
&#x017F;o darf auch nichts anderes in den Keiment&#x017F;chluß ge&#x017F;ezt werden,<lb/>
als die reine Selb&#x017F;tmanife&#x017F;tation in der gegen&#x017F;eitigen Corre&#x017F;pon-<lb/>
denz von Form und Inhalt. So ent&#x017F;teht aber die Frage fu&#x0364;r die<lb/>
Hermeneutik, ob ein Werk als Kun&#x017F;twerk ange&#x017F;ehen &#x017F;ein wolle oder<lb/>
nicht? Wird dieß nun durch die Form be&#x017F;timmt oder nicht?<lb/>
Hat &#x017F;ich in einem be&#x017F;timmten Sprach- und Nationalgebiete die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">11*</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[163/0187] keit ſeines Verfaſſers, ſo muͤßte das Gebiet, wozu es gehoͤrt, mechaniſirt ſein. In feſtſtehenden Formen naͤhert man ſich ſol- chem mechaniſirten Gebiete. Je beſtimmter die Geſeze einer Form ſind, deſto leerer iſt die Produktion von Eigenthuͤmlichkeit. So ſteht das individuelle Leben dem Mechaniſirten gegenuͤber. Aber das Verhaͤltniß iſt in den Schriften verſchieden. Rein tritt das Individuelle nie zuruͤck. Hier kommen wir aber in Verlegenheit in Beziehung auf das, was ſich in der Theorie der Kunſt geltend gemacht hat. Denke man ſich den Fall der alten Tragoͤdie. Hier iſt die Form auf eine gewiſſe Weiſe und in einem beſtimmten Grade beſtimmt. Haben mehrere Dichter denſelben Stoff neben einander zu bearbei- ten, ſo werden ihre Dispoſitionen ſehr aͤhnlich ſein. Je groͤßer die Differenz iſt, deſto mehr wird auf der einen oder andern Seite groͤßere oder geringere Unvollkommenheit ſein. Welches iſt nun aber der Grund der Verſchiedenheit? Indem wir das Ganze auf einen Willensakt der Verfaſſer zuruͤckfuͤhren, fragt ſich, was hat der eine und der andere gewollt? Die Beziehungen von Stoff und Form ſind dabei nur aͤußerlich. Wollte man ſagen, der eine oder andere habe dabei einen beſtimmten politiſchen oder moraliſchen Zweck gehabt, ſo wuͤrde die Kunſttheorie einwenden, dadurch ſei der reine Charakter des Kunſtwerks verlezt, ein Kunſtwerk muͤſſe keinen beſtimmten Zweck haben. Iſt dieſe Theorie richtig, ſo wuͤrde man nur ſagen duͤrfen, es koͤnne eine beſtimmte Richtung zum Grunde liegen, aber kein beſtimmter Zweck. Dieß gilt aber nur ſofern als das auszulegende Werk ein reines Kunſtwerk iſt, denn da bleibt nichts uͤbrig, es geht alles in Stoff und Form auf. Soll der Werth einer Schrift der eines reinen Kunſtwerks ſein, ſo darf auch nichts anderes in den Keimentſchluß geſezt werden, als die reine Selbſtmanifeſtation in der gegenſeitigen Correſpon- denz von Form und Inhalt. So entſteht aber die Frage fuͤr die Hermeneutik, ob ein Werk als Kunſtwerk angeſehen ſein wolle oder nicht? Wird dieß nun durch die Form beſtimmt oder nicht? Hat ſich in einem beſtimmten Sprach- und Nationalgebiete die 11*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/187
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/187>, abgerufen am 04.12.2024.