finden. Ohne dieß ist kein wahres Verstehen möglich. Wir brin- gen nun freilich bei der einzelnen didaktischen Schrift keinen In- halt mit, aber doch die Vorstellung und die Beziehung auf einen solchen. Wollen wir nun in Folge davon sagen, der Schriftsteller könne dieß oder jenes nicht gedacht haben, sonst hätte er es mit- getheilt, so würde dieß, wenn es mit Grund gesezt sein soll, vor- aussezen, daß man die Aufgabe gänzlich gelöst habe. Dieß aber ist doch nicht wahr. Außerdem müßte man dabei voraussezen, der Gegenstand habe sollen in der Schrift erschöpft werden. Die Auf- gabe kann wahrhaft nur gelöst werden in dem Grade, als man im Besiz alles dessen ist, was in der Meditation des Verfassers hätte sein können, wozu aber gehört, daß man den Zustand des Gegenstandes zur Zeit des Schriftstellers mit einer gewissen Ge- nauigkeit kennen müßte. Wie ist es aber mit den Bedingungen dazu im N. T.? Man kann diese Sache auf verschiedene Weise ansehen. Sehen wir das N. T. als Eine Aufgabe an, so wissen wir, daß es keine anderweitigen Schriften und Notizen über den Zustand des Gegenstandes aus derselben Zeit giebt. Wir sind also auf das N. T. selbst gewiesen. Nehmen wir hingegen die neutest. Bücher einzeln, so ist die Gesammtheit aller ein Mittel, wodurch die Lösung der Aufgabe für das einzelne Buch erleich- tert wird. Die Aufgabe ist dann unter der Form zu lösen, das Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen, und nur in dem Maaße, in welchem das Ganze zum Verstehen des Einzelnen gegeben ist, kann die Aufgabe glücklich gelöst werden.
Nun ist wahr, die Aufgabe die Meditation zu verstehen ist abhängig von dem Verstehen der Composition. Allein wir haben jene mit Grund vorangestellt, weil wir nur durch die Kenntniß der ganzen Meditation die Composition genetisch verstehen. Das Entgegengesezte tritt nur ein in Beziehung auf die Nebengedan- ken, denn diese entstehen erst in der Composition. Haben wir Grund anzunehmen, daß nicht der ganze wesentliche Inhalt im Moment der Meditation war, ehe der Schriftsteller an die Com- position ging, so ist das Werk ein unvollkommenes. Dieß schließt
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finden. Ohne dieß iſt kein wahres Verſtehen moͤglich. Wir brin- gen nun freilich bei der einzelnen didaktiſchen Schrift keinen In- halt mit, aber doch die Vorſtellung und die Beziehung auf einen ſolchen. Wollen wir nun in Folge davon ſagen, der Schriftſteller koͤnne dieß oder jenes nicht gedacht haben, ſonſt haͤtte er es mit- getheilt, ſo wuͤrde dieß, wenn es mit Grund geſezt ſein ſoll, vor- ausſezen, daß man die Aufgabe gaͤnzlich geloͤſt habe. Dieß aber iſt doch nicht wahr. Außerdem muͤßte man dabei vorausſezen, der Gegenſtand habe ſollen in der Schrift erſchoͤpft werden. Die Auf- gabe kann wahrhaft nur geloͤſt werden in dem Grade, als man im Beſiz alles deſſen iſt, was in der Meditation des Verfaſſers haͤtte ſein koͤnnen, wozu aber gehoͤrt, daß man den Zuſtand des Gegenſtandes zur Zeit des Schriftſtellers mit einer gewiſſen Ge- nauigkeit kennen muͤßte. Wie iſt es aber mit den Bedingungen dazu im N. T.? Man kann dieſe Sache auf verſchiedene Weiſe anſehen. Sehen wir das N. T. als Eine Aufgabe an, ſo wiſſen wir, daß es keine anderweitigen Schriften und Notizen uͤber den Zuſtand des Gegenſtandes aus derſelben Zeit giebt. Wir ſind alſo auf das N. T. ſelbſt gewieſen. Nehmen wir hingegen die neuteſt. Buͤcher einzeln, ſo iſt die Geſammtheit aller ein Mittel, wodurch die Loͤſung der Aufgabe fuͤr das einzelne Buch erleich- tert wird. Die Aufgabe iſt dann unter der Form zu loͤſen, das Einzelne aus dem Ganzen zu verſtehen, und nur in dem Maaße, in welchem das Ganze zum Verſtehen des Einzelnen gegeben iſt, kann die Aufgabe gluͤcklich geloͤſt werden.
Nun iſt wahr, die Aufgabe die Meditation zu verſtehen iſt abhaͤngig von dem Verſtehen der Compoſition. Allein wir haben jene mit Grund vorangeſtellt, weil wir nur durch die Kenntniß der ganzen Meditation die Compoſition genetiſch verſtehen. Das Entgegengeſezte tritt nur ein in Beziehung auf die Nebengedan- ken, denn dieſe entſtehen erſt in der Compoſition. Haben wir Grund anzunehmen, daß nicht der ganze weſentliche Inhalt im Moment der Meditation war, ehe der Schriftſteller an die Com- poſition ging, ſo iſt das Werk ein unvollkommenes. Dieß ſchließt
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finden. Ohne dieß iſt kein wahres Verſtehen moͤglich. Wir brin-
gen nun freilich bei der einzelnen didaktiſchen Schrift keinen In-
halt mit, aber doch die Vorſtellung und die Beziehung auf einen
ſolchen. Wollen wir nun in Folge davon ſagen, der Schriftſteller
koͤnne dieß oder jenes nicht gedacht haben, ſonſt haͤtte er es mit-
getheilt, ſo wuͤrde dieß, wenn es mit Grund geſezt ſein ſoll, vor-
ausſezen, daß man die Aufgabe gaͤnzlich geloͤſt habe. Dieß aber
iſt doch nicht wahr. Außerdem muͤßte man dabei vorausſezen, der
Gegenſtand habe ſollen in der Schrift erſchoͤpft werden. Die Auf-
gabe kann wahrhaft nur geloͤſt werden in dem Grade, als man
im Beſiz alles deſſen iſt, was in der Meditation des Verfaſſers
haͤtte ſein koͤnnen, wozu aber gehoͤrt, daß man den Zuſtand des
Gegenſtandes zur Zeit des Schriftſtellers mit einer gewiſſen Ge-
nauigkeit kennen muͤßte. Wie iſt es aber mit den Bedingungen
dazu im N. T.? Man kann dieſe Sache auf verſchiedene Weiſe
anſehen. Sehen wir das N. T. als Eine Aufgabe an, ſo wiſſen
wir, daß es keine anderweitigen Schriften und Notizen uͤber den
Zuſtand des Gegenſtandes aus derſelben Zeit giebt. Wir ſind
alſo auf das N. T. ſelbſt gewieſen. Nehmen wir hingegen die
neuteſt. Buͤcher einzeln, ſo iſt die Geſammtheit aller ein Mittel,
wodurch die Loͤſung der Aufgabe fuͤr das einzelne Buch erleich-
tert wird. Die Aufgabe iſt dann unter der Form zu loͤſen, das
Einzelne aus dem Ganzen zu verſtehen, und nur in dem Maaße,
in welchem das Ganze zum Verſtehen des Einzelnen gegeben iſt,
kann die Aufgabe gluͤcklich geloͤſt werden.
Nun iſt wahr, die Aufgabe die Meditation zu verſtehen iſt
abhaͤngig von dem Verſtehen der Compoſition. Allein wir haben
jene mit Grund vorangeſtellt, weil wir nur durch die Kenntniß
der ganzen Meditation die Compoſition genetiſch verſtehen. Das
Entgegengeſezte tritt nur ein in Beziehung auf die Nebengedan-
ken, denn dieſe entſtehen erſt in der Compoſition. Haben wir
Grund anzunehmen, daß nicht der ganze weſentliche Inhalt im
Moment der Meditation war, ehe der Schriftſteller an die Com-
poſition ging, ſo iſt das Werk ein unvollkommenes. Dieß ſchließt
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/235>, abgerufen am 04.12.2024.
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