hört. Doch ist eine solche Taxation immer nur eine vorläufige Maaßregel. Die eigentliche Aufgabe der philologischen Kritik ist, das Richtige in der Schrift selbst darzustellen.
Das Nächste was wir zu thun haben ist, zu untersuchen, wie sich die philologische Kritik zur historischen verhält. Von die- ser sagt man im Allgemeinen, sie sei die Kunst, aus vorhande- nen Relationen die eigentliche Wahrheit einer Thatsache auszu- mitteln. Die Aufgabe ist auf diesem Gebiete ganz allgemein zu stellen. Wir finden nemlich überall eine Differenz zwischen der Relation und der Thatsache. Die Differenz kann geringer und größer sein, aber vorhanden ist sie in irgend einem Grade immer. Wenn Jemand erzählt, was er selbst erlebt hat, so ist das Analoge dieß, wenn Jemand etwas mit Worten beschreibt, was er selbst gese- hen hat. Etwas mit Worten beschreiben, und das mit Augen Gesehene sind irrationale Größen zu einander. Die Wahrneh- mung ist nemlich ein Continuum, die Beschreibung kann es nicht sein. Die Aufgabe, durch Beschreibung den Gegenstand richtig darzustellen, kann nur auf verschiedene, nie auf dieselbe Weise gelöst werden. Es ist darin immer eine Verwandlung des Con- tinuum, des concreten Gegenstandes, in den discreten, -- in eine aus einzelnen Säzen bestehende Beschreibung, worin immer ein Urtheil des Beschreibers mit enthalten ist, und nothwendig einiges nicht beschrieben, übergangen, anderes zusammengezogen wird, weil sonst die Beschreibung eine unendliche werden müßte. Es gleicht diese Verwandlung eines Continuums der Verwand- lung einer Fläche in einen einzelnen Punkt. Dabei kann man verschieden zu Werke gehen, und so kann auch das Übergangene verschieden ergänzt werden. -- Wenn aus der Beschreibung ei- nes unbekannten Thieres zwei von einander unabhängig sich ein Bild davon herstellen, so werden die Bilder sehr verschieden sein. Eben so mit der Erzählung einer Thatsache. Natürlich ist es von besonderer Wichtigkeit zu wissen, wie der Erzählende verfahren sei. Je mehr er mir bekannt ist, seine Art wahrzunehmen, seine Neigungen, in der Wahrnehmung etwas zu übersehen, von dem
hoͤrt. Doch iſt eine ſolche Taxation immer nur eine vorlaͤufige Maaßregel. Die eigentliche Aufgabe der philologiſchen Kritik iſt, das Richtige in der Schrift ſelbſt darzuſtellen.
Das Naͤchſte was wir zu thun haben iſt, zu unterſuchen, wie ſich die philologiſche Kritik zur hiſtoriſchen verhaͤlt. Von die- ſer ſagt man im Allgemeinen, ſie ſei die Kunſt, aus vorhande- nen Relationen die eigentliche Wahrheit einer Thatſache auszu- mitteln. Die Aufgabe iſt auf dieſem Gebiete ganz allgemein zu ſtellen. Wir finden nemlich uͤberall eine Differenz zwiſchen der Relation und der Thatſache. Die Differenz kann geringer und groͤßer ſein, aber vorhanden iſt ſie in irgend einem Grade immer. Wenn Jemand erzaͤhlt, was er ſelbſt erlebt hat, ſo iſt das Analoge dieß, wenn Jemand etwas mit Worten beſchreibt, was er ſelbſt geſe- hen hat. Etwas mit Worten beſchreiben, und das mit Augen Geſehene ſind irrationale Groͤßen zu einander. Die Wahrneh- mung iſt nemlich ein Continuum, die Beſchreibung kann es nicht ſein. Die Aufgabe, durch Beſchreibung den Gegenſtand richtig darzuſtellen, kann nur auf verſchiedene, nie auf dieſelbe Weiſe geloͤſt werden. Es iſt darin immer eine Verwandlung des Con- tinuum, des concreten Gegenſtandes, in den discreten, — in eine aus einzelnen Saͤzen beſtehende Beſchreibung, worin immer ein Urtheil des Beſchreibers mit enthalten iſt, und nothwendig einiges nicht beſchrieben, uͤbergangen, anderes zuſammengezogen wird, weil ſonſt die Beſchreibung eine unendliche werden muͤßte. Es gleicht dieſe Verwandlung eines Continuums der Verwand- lung einer Flaͤche in einen einzelnen Punkt. Dabei kann man verſchieden zu Werke gehen, und ſo kann auch das Übergangene verſchieden ergaͤnzt werden. — Wenn aus der Beſchreibung ei- nes unbekannten Thieres zwei von einander unabhaͤngig ſich ein Bild davon herſtellen, ſo werden die Bilder ſehr verſchieden ſein. Eben ſo mit der Erzaͤhlung einer Thatſache. Natuͤrlich iſt es von beſonderer Wichtigkeit zu wiſſen, wie der Erzaͤhlende verfahren ſei. Je mehr er mir bekannt iſt, ſeine Art wahrzunehmen, ſeine Neigungen, in der Wahrnehmung etwas zu uͤberſehen, von dem
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0295"n="271"/>
hoͤrt. Doch iſt eine ſolche Taxation immer nur eine vorlaͤufige<lb/>
Maaßregel. Die eigentliche Aufgabe der philologiſchen Kritik iſt,<lb/>
das Richtige in der Schrift ſelbſt darzuſtellen.</p><lb/><p>Das Naͤchſte was wir zu thun haben iſt, zu unterſuchen,<lb/>
wie ſich die philologiſche Kritik zur hiſtoriſchen verhaͤlt. Von die-<lb/>ſer ſagt man im Allgemeinen, ſie ſei die Kunſt, aus vorhande-<lb/>
nen Relationen die eigentliche Wahrheit einer Thatſache auszu-<lb/>
mitteln. Die Aufgabe iſt auf dieſem Gebiete ganz allgemein zu<lb/>ſtellen. Wir finden nemlich uͤberall eine Differenz zwiſchen der<lb/>
Relation und der Thatſache. Die Differenz kann geringer und groͤßer<lb/>ſein, aber vorhanden iſt ſie in irgend einem Grade immer. Wenn<lb/>
Jemand erzaͤhlt, was er ſelbſt erlebt hat, ſo iſt das Analoge dieß,<lb/>
wenn Jemand etwas mit Worten beſchreibt, was er ſelbſt geſe-<lb/>
hen hat. Etwas mit Worten beſchreiben, und das mit Augen<lb/>
Geſehene ſind irrationale Groͤßen zu einander. Die Wahrneh-<lb/>
mung iſt nemlich ein Continuum, die Beſchreibung kann es nicht<lb/>ſein. Die Aufgabe, durch Beſchreibung den Gegenſtand richtig<lb/>
darzuſtellen, kann nur auf verſchiedene, nie auf dieſelbe Weiſe<lb/>
geloͤſt werden. Es iſt darin immer eine Verwandlung des Con-<lb/>
tinuum, des concreten Gegenſtandes, in den discreten, — in<lb/>
eine aus einzelnen Saͤzen beſtehende Beſchreibung, worin immer<lb/>
ein Urtheil des Beſchreibers mit enthalten iſt, und nothwendig<lb/>
einiges nicht beſchrieben, uͤbergangen, anderes zuſammengezogen<lb/>
wird, weil ſonſt die Beſchreibung eine unendliche werden muͤßte.<lb/>
Es gleicht dieſe Verwandlung eines Continuums der Verwand-<lb/>
lung einer Flaͤche in einen einzelnen Punkt. Dabei kann man<lb/>
verſchieden zu Werke gehen, und ſo kann auch das Übergangene<lb/>
verſchieden ergaͤnzt werden. — Wenn aus der Beſchreibung ei-<lb/>
nes unbekannten Thieres zwei von einander unabhaͤngig ſich ein<lb/>
Bild davon herſtellen, ſo werden die Bilder ſehr verſchieden ſein.<lb/>
Eben ſo mit der Erzaͤhlung einer Thatſache. Natuͤrlich iſt es von<lb/>
beſonderer Wichtigkeit zu wiſſen, wie der Erzaͤhlende verfahren<lb/>ſei. Je mehr er mir bekannt iſt, ſeine Art wahrzunehmen, ſeine<lb/>
Neigungen, in der Wahrnehmung etwas zu uͤberſehen, von dem<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[271/0295]
hoͤrt. Doch iſt eine ſolche Taxation immer nur eine vorlaͤufige
Maaßregel. Die eigentliche Aufgabe der philologiſchen Kritik iſt,
das Richtige in der Schrift ſelbſt darzuſtellen.
Das Naͤchſte was wir zu thun haben iſt, zu unterſuchen,
wie ſich die philologiſche Kritik zur hiſtoriſchen verhaͤlt. Von die-
ſer ſagt man im Allgemeinen, ſie ſei die Kunſt, aus vorhande-
nen Relationen die eigentliche Wahrheit einer Thatſache auszu-
mitteln. Die Aufgabe iſt auf dieſem Gebiete ganz allgemein zu
ſtellen. Wir finden nemlich uͤberall eine Differenz zwiſchen der
Relation und der Thatſache. Die Differenz kann geringer und groͤßer
ſein, aber vorhanden iſt ſie in irgend einem Grade immer. Wenn
Jemand erzaͤhlt, was er ſelbſt erlebt hat, ſo iſt das Analoge dieß,
wenn Jemand etwas mit Worten beſchreibt, was er ſelbſt geſe-
hen hat. Etwas mit Worten beſchreiben, und das mit Augen
Geſehene ſind irrationale Groͤßen zu einander. Die Wahrneh-
mung iſt nemlich ein Continuum, die Beſchreibung kann es nicht
ſein. Die Aufgabe, durch Beſchreibung den Gegenſtand richtig
darzuſtellen, kann nur auf verſchiedene, nie auf dieſelbe Weiſe
geloͤſt werden. Es iſt darin immer eine Verwandlung des Con-
tinuum, des concreten Gegenſtandes, in den discreten, — in
eine aus einzelnen Saͤzen beſtehende Beſchreibung, worin immer
ein Urtheil des Beſchreibers mit enthalten iſt, und nothwendig
einiges nicht beſchrieben, uͤbergangen, anderes zuſammengezogen
wird, weil ſonſt die Beſchreibung eine unendliche werden muͤßte.
Es gleicht dieſe Verwandlung eines Continuums der Verwand-
lung einer Flaͤche in einen einzelnen Punkt. Dabei kann man
verſchieden zu Werke gehen, und ſo kann auch das Übergangene
verſchieden ergaͤnzt werden. — Wenn aus der Beſchreibung ei-
nes unbekannten Thieres zwei von einander unabhaͤngig ſich ein
Bild davon herſtellen, ſo werden die Bilder ſehr verſchieden ſein.
Eben ſo mit der Erzaͤhlung einer Thatſache. Natuͤrlich iſt es von
beſonderer Wichtigkeit zu wiſſen, wie der Erzaͤhlende verfahren
ſei. Je mehr er mir bekannt iſt, ſeine Art wahrzunehmen, ſeine
Neigungen, in der Wahrnehmung etwas zu uͤberſehen, von dem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/295>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.