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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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So wird man in der Regel durch die vorhandene Interpunktion
befangen, hält sie für richtig, und nur wenn man auf Schwie-
rigkeiten stößt und auf die Möglichkeit eines andern Sinnes bei
veränderter Interpunktion wird man bedenklich. Allein man ist
schon im Zuge dessen, was einem früher eingeleuchtet hat, alles
andere ist im Nachtheil der Opposition. Wollten wir deßwegen
verlangen, daß die alten Schriftsteller ohne alle Interpunktion
gedruckt werden sollten, so wäre dieß zu sehr wider alle Gewohn-
heit und würde für die meisten Leser neue Schwierigkeiten haben.
Richtiger wäre es freilich an sich, aber es ist unthunlich. Auf
jeden Fall aber ist bei interpungirtem Text alle Vorsicht an-
zuwenden.

Eben so kann der Leser leicht durch den vorliegenden Text
bestochen werden. Dieser nimmt von einem früher Besiz, als
man die abweichenden Lesearten vergleicht. Daher ist es gut,
wenn der Herausgeber die Maximen, die er bei der Constitution
des Textes befolgt hat, gleich von vorn herein bestimmt. Je
bestimmter sie ausgesprochen sind, desto leichter kann man sich
orientiren. Es ist ein bedeutender Unterschied, ob der Text aus
lauter Urkundlichem besteht, oder ob auch Resultate der divinato-
rischen Kritik darin sind, ob der Text aus gleichartigem oder un-
gleichartigem Urkundlichen besteht. Doch kommt es dabei eben
auf die Bestimmung des Werkes an. Denkt man sich die Aus-
gabe eines Classikers ohne alle philologische Tendenz zu anderwei-
tigem Gebrauch gemacht, etwa bloß für den ästhetischen Genuß
der Liebhaber, so kann der Herausgeber selbst seine Emendationen
mit aufnehmen. So liegt auch den Ausgaben zum Schulgebrauch
die eigentlich kritische Aufgabe fern; der kritische Apparat würde
nur aufhalten. Aber zu streng philologischem Gebrauch ist noth-
wendig, daß der Herausgeber den vollständigen kritischen Apparat
vorlege, so daß Urtheil und Urkundliches unterschieden werden
könne. Diese Unterscheidung ist nothwendig, wiewol nicht immer
rein durchzuführen.

Wie weit geht nun aber die Obliegenheit des kritischen Lesers,

So wird man in der Regel durch die vorhandene Interpunktion
befangen, haͤlt ſie fuͤr richtig, und nur wenn man auf Schwie-
rigkeiten ſtoͤßt und auf die Moͤglichkeit eines andern Sinnes bei
veraͤnderter Interpunktion wird man bedenklich. Allein man iſt
ſchon im Zuge deſſen, was einem fruͤher eingeleuchtet hat, alles
andere iſt im Nachtheil der Oppoſition. Wollten wir deßwegen
verlangen, daß die alten Schriftſteller ohne alle Interpunktion
gedruckt werden ſollten, ſo waͤre dieß zu ſehr wider alle Gewohn-
heit und wuͤrde fuͤr die meiſten Leſer neue Schwierigkeiten haben.
Richtiger waͤre es freilich an ſich, aber es iſt unthunlich. Auf
jeden Fall aber iſt bei interpungirtem Text alle Vorſicht an-
zuwenden.

Eben ſo kann der Leſer leicht durch den vorliegenden Text
beſtochen werden. Dieſer nimmt von einem fruͤher Beſiz, als
man die abweichenden Leſearten vergleicht. Daher iſt es gut,
wenn der Herausgeber die Maximen, die er bei der Conſtitution
des Textes befolgt hat, gleich von vorn herein beſtimmt. Je
beſtimmter ſie ausgeſprochen ſind, deſto leichter kann man ſich
orientiren. Es iſt ein bedeutender Unterſchied, ob der Text aus
lauter Urkundlichem beſteht, oder ob auch Reſultate der divinato-
riſchen Kritik darin ſind, ob der Text aus gleichartigem oder un-
gleichartigem Urkundlichen beſteht. Doch kommt es dabei eben
auf die Beſtimmung des Werkes an. Denkt man ſich die Aus-
gabe eines Claſſikers ohne alle philologiſche Tendenz zu anderwei-
tigem Gebrauch gemacht, etwa bloß fuͤr den aͤſthetiſchen Genuß
der Liebhaber, ſo kann der Herausgeber ſelbſt ſeine Emendationen
mit aufnehmen. So liegt auch den Ausgaben zum Schulgebrauch
die eigentlich kritiſche Aufgabe fern; der kritiſche Apparat wuͤrde
nur aufhalten. Aber zu ſtreng philologiſchem Gebrauch iſt noth-
wendig, daß der Herausgeber den vollſtaͤndigen kritiſchen Apparat
vorlege, ſo daß Urtheil und Urkundliches unterſchieden werden
koͤnne. Dieſe Unterſcheidung iſt nothwendig, wiewol nicht immer
rein durchzufuͤhren.

Wie weit geht nun aber die Obliegenheit des kritiſchen Leſers,

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[300/0324] So wird man in der Regel durch die vorhandene Interpunktion befangen, haͤlt ſie fuͤr richtig, und nur wenn man auf Schwie- rigkeiten ſtoͤßt und auf die Moͤglichkeit eines andern Sinnes bei veraͤnderter Interpunktion wird man bedenklich. Allein man iſt ſchon im Zuge deſſen, was einem fruͤher eingeleuchtet hat, alles andere iſt im Nachtheil der Oppoſition. Wollten wir deßwegen verlangen, daß die alten Schriftſteller ohne alle Interpunktion gedruckt werden ſollten, ſo waͤre dieß zu ſehr wider alle Gewohn- heit und wuͤrde fuͤr die meiſten Leſer neue Schwierigkeiten haben. Richtiger waͤre es freilich an ſich, aber es iſt unthunlich. Auf jeden Fall aber iſt bei interpungirtem Text alle Vorſicht an- zuwenden. Eben ſo kann der Leſer leicht durch den vorliegenden Text beſtochen werden. Dieſer nimmt von einem fruͤher Beſiz, als man die abweichenden Leſearten vergleicht. Daher iſt es gut, wenn der Herausgeber die Maximen, die er bei der Conſtitution des Textes befolgt hat, gleich von vorn herein beſtimmt. Je beſtimmter ſie ausgeſprochen ſind, deſto leichter kann man ſich orientiren. Es iſt ein bedeutender Unterſchied, ob der Text aus lauter Urkundlichem beſteht, oder ob auch Reſultate der divinato- riſchen Kritik darin ſind, ob der Text aus gleichartigem oder un- gleichartigem Urkundlichen beſteht. Doch kommt es dabei eben auf die Beſtimmung des Werkes an. Denkt man ſich die Aus- gabe eines Claſſikers ohne alle philologiſche Tendenz zu anderwei- tigem Gebrauch gemacht, etwa bloß fuͤr den aͤſthetiſchen Genuß der Liebhaber, ſo kann der Herausgeber ſelbſt ſeine Emendationen mit aufnehmen. So liegt auch den Ausgaben zum Schulgebrauch die eigentlich kritiſche Aufgabe fern; der kritiſche Apparat wuͤrde nur aufhalten. Aber zu ſtreng philologiſchem Gebrauch iſt noth- wendig, daß der Herausgeber den vollſtaͤndigen kritiſchen Apparat vorlege, ſo daß Urtheil und Urkundliches unterſchieden werden koͤnne. Dieſe Unterſcheidung iſt nothwendig, wiewol nicht immer rein durchzufuͤhren. Wie weit geht nun aber die Obliegenheit des kritiſchen Leſers,

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/324>, abgerufen am 05.12.2024.