verstehen will, selbst aber glaubt nothwendig verstanden zu werden.
2. Die Philologie ist auch etwas positives durch unsere Geschichte geworden. Daher ihre Behandlungsweise der Her- meneutik auch nur Aggregat von Observationen ist.
Zusatz1). Spezielle Hermeneutik sowohl der Gattung als der Sprache nach ist immer nur Aggregat von Observa- tionen und genügt keiner wissenschafftlichen Forderung. Das Verstehen erst ohne Besinnung (der Regeln) treiben und nur in einzelnen Fällen zu Regeln seine Zuflucht nehmen, ist auch ein ungleichmäßiges Verfahren. Man muß diese beiden Stand- punkte, wenn man keinen aufgeben kann, mit einander verbin- den. Dieß geschieht durch eine doppelte Erfahrung. 1) Auch wo wir am kunstlosesten verfahren zu können glauben, entstehen oft unerwartete Schwierigkeiten, wozu die Lösungsgründe doch im früheren liegen müssen. Also sind wir überall aufgefordert auf das zu achten, was Lösungsgrund werden kann. 2) Wenn wir überall kunstmäßig verfahren, so kommen wir doch am Ende zu einer bewußtlosen Anwendung der Regeln, ohne daß wir das kunstmäßige verlassen hätten.
3. Da Kunst zu reden und zu verstehen (correspon- dirend) einander gegenüberstehen, reden aber nur die äußere Seite des Denkens ist, so ist die Hermeneutik im Zusammen- hange mit der Kunst zu denken und also philosophisch.
Jedoch so, daß die Auslegungskunst von der Composition abhängig ist und sie voraussetzt. Der Parallelismus aber be- steht darin, daß wo das Reden ohne Kunst ist bedarf es zum Verstehen auch keiner.
4. Das Reden ist die Vermittlung für die Gemein- schaftlichkeit des Denkens, und hieraus erklärt sich die Zu-
1) Randbemerk. v. J. 1828.
verſtehen will, ſelbſt aber glaubt nothwendig verſtanden zu werden.
2. Die Philologie iſt auch etwas poſitives durch unſere Geſchichte geworden. Daher ihre Behandlungsweiſe der Her- meneutik auch nur Aggregat von Obſervationen iſt.
Zuſatz1). Spezielle Hermeneutik ſowohl der Gattung als der Sprache nach iſt immer nur Aggregat von Obſerva- tionen und genuͤgt keiner wiſſenſchafftlichen Forderung. Das Verſtehen erſt ohne Beſinnung (der Regeln) treiben und nur in einzelnen Faͤllen zu Regeln ſeine Zuflucht nehmen, iſt auch ein ungleichmaͤßiges Verfahren. Man muß dieſe beiden Stand- punkte, wenn man keinen aufgeben kann, mit einander verbin- den. Dieß geſchieht durch eine doppelte Erfahrung. 1) Auch wo wir am kunſtloſeſten verfahren zu koͤnnen glauben, entſtehen oft unerwartete Schwierigkeiten, wozu die Loͤſungsgruͤnde doch im fruͤheren liegen muͤſſen. Alſo ſind wir uͤberall aufgefordert auf das zu achten, was Loͤſungsgrund werden kann. 2) Wenn wir uͤberall kunſtmaͤßig verfahren, ſo kommen wir doch am Ende zu einer bewußtloſen Anwendung der Regeln, ohne daß wir das kunſtmaͤßige verlaſſen haͤtten.
3. Da Kunſt zu reden und zu verſtehen (correſpon- dirend) einander gegenuͤberſtehen, reden aber nur die aͤußere Seite des Denkens iſt, ſo iſt die Hermeneutik im Zuſammen- hange mit der Kunſt zu denken und alſo philoſophiſch.
Jedoch ſo, daß die Auslegungskunſt von der Compoſition abhaͤngig iſt und ſie vorausſetzt. Der Parallelismus aber be- ſteht darin, daß wo das Reden ohne Kunſt iſt bedarf es zum Verſtehen auch keiner.
4. Das Reden iſt die Vermittlung fuͤr die Gemein- ſchaftlichkeit des Denkens, und hieraus erklaͤrt ſich die Zu-
1) Randbemerk. v. J. 1828.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0033"n="9"/>
verſtehen will, ſelbſt aber glaubt nothwendig verſtanden zu<lb/>
werden.</p><lb/><p>2. Die Philologie iſt auch etwas poſitives durch unſere<lb/>
Geſchichte geworden. Daher ihre Behandlungsweiſe der Her-<lb/>
meneutik auch nur Aggregat von Obſervationen iſt.</p><lb/><p><hirendition="#g">Zuſatz</hi><noteplace="foot"n="1)">Randbemerk. v. J. 1828.</note>. Spezielle Hermeneutik ſowohl der Gattung<lb/>
als der Sprache nach iſt immer nur Aggregat von Obſerva-<lb/>
tionen und genuͤgt keiner wiſſenſchafftlichen Forderung. Das<lb/>
Verſtehen erſt ohne Beſinnung (der Regeln) treiben und nur<lb/>
in einzelnen Faͤllen zu Regeln ſeine Zuflucht nehmen, iſt auch<lb/>
ein ungleichmaͤßiges Verfahren. Man muß dieſe beiden Stand-<lb/>
punkte, wenn man keinen aufgeben kann, mit einander verbin-<lb/>
den. Dieß geſchieht durch eine doppelte Erfahrung. 1) Auch<lb/>
wo wir am kunſtloſeſten verfahren zu koͤnnen glauben, entſtehen<lb/>
oft unerwartete Schwierigkeiten, wozu die Loͤſungsgruͤnde doch<lb/>
im fruͤheren liegen muͤſſen. Alſo ſind wir uͤberall aufgefordert<lb/>
auf das zu achten, was Loͤſungsgrund werden kann. 2) Wenn<lb/>
wir uͤberall kunſtmaͤßig verfahren, ſo kommen wir doch am<lb/>
Ende zu einer bewußtloſen Anwendung der Regeln, ohne daß<lb/>
wir das kunſtmaͤßige verlaſſen haͤtten.</p><lb/><p>3. Da Kunſt zu reden und zu verſtehen (correſpon-<lb/>
dirend) einander gegenuͤberſtehen, reden aber nur die aͤußere<lb/>
Seite des Denkens iſt, ſo iſt die Hermeneutik im Zuſammen-<lb/>
hange mit der Kunſt zu denken und alſo philoſophiſch.</p><lb/><p>Jedoch ſo, daß die Auslegungskunſt von der Compoſition<lb/>
abhaͤngig iſt und ſie vorausſetzt. Der Parallelismus aber be-<lb/>ſteht darin, daß wo das Reden ohne Kunſt iſt bedarf es zum<lb/>
Verſtehen auch keiner.</p><lb/><p>4. Das Reden iſt die Vermittlung fuͤr die Gemein-<lb/>ſchaftlichkeit des Denkens, und hieraus erklaͤrt ſich die Zu-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[9/0033]
verſtehen will, ſelbſt aber glaubt nothwendig verſtanden zu
werden.
2. Die Philologie iſt auch etwas poſitives durch unſere
Geſchichte geworden. Daher ihre Behandlungsweiſe der Her-
meneutik auch nur Aggregat von Obſervationen iſt.
Zuſatz 1). Spezielle Hermeneutik ſowohl der Gattung
als der Sprache nach iſt immer nur Aggregat von Obſerva-
tionen und genuͤgt keiner wiſſenſchafftlichen Forderung. Das
Verſtehen erſt ohne Beſinnung (der Regeln) treiben und nur
in einzelnen Faͤllen zu Regeln ſeine Zuflucht nehmen, iſt auch
ein ungleichmaͤßiges Verfahren. Man muß dieſe beiden Stand-
punkte, wenn man keinen aufgeben kann, mit einander verbin-
den. Dieß geſchieht durch eine doppelte Erfahrung. 1) Auch
wo wir am kunſtloſeſten verfahren zu koͤnnen glauben, entſtehen
oft unerwartete Schwierigkeiten, wozu die Loͤſungsgruͤnde doch
im fruͤheren liegen muͤſſen. Alſo ſind wir uͤberall aufgefordert
auf das zu achten, was Loͤſungsgrund werden kann. 2) Wenn
wir uͤberall kunſtmaͤßig verfahren, ſo kommen wir doch am
Ende zu einer bewußtloſen Anwendung der Regeln, ohne daß
wir das kunſtmaͤßige verlaſſen haͤtten.
3. Da Kunſt zu reden und zu verſtehen (correſpon-
dirend) einander gegenuͤberſtehen, reden aber nur die aͤußere
Seite des Denkens iſt, ſo iſt die Hermeneutik im Zuſammen-
hange mit der Kunſt zu denken und alſo philoſophiſch.
Jedoch ſo, daß die Auslegungskunſt von der Compoſition
abhaͤngig iſt und ſie vorausſetzt. Der Parallelismus aber be-
ſteht darin, daß wo das Reden ohne Kunſt iſt bedarf es zum
Verſtehen auch keiner.
4. Das Reden iſt die Vermittlung fuͤr die Gemein-
ſchaftlichkeit des Denkens, und hieraus erklaͤrt ſich die Zu-
1) Randbemerk. v. J. 1828.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/33>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.