selbst in den kritischen Apparat hinein, der darin als der sich von selbst verstehende angesehen wird. Daraus erklärt sich, daß der kritische Apparat unvollständig ist, weil nicht angeführt ist, welche Auctoritäten den gemeinen Text beschüzen. Nur die Auctoritäten für die Abweichungen sind angegeben, aber auch nicht alle, wie denn eine solche Vollständigkeit auch nicht möglich wäre. So ist der gemeine Text immer mächtiger geworden; indem er den kriti- schen Bemühungen zum Grunde liegt, bestimmt er die Art und Weise, wie dieselben hervortreten.
Unter diesen Verhältnissen entsteht die Frage, was möglicher Weise für den neutestam. Text geleistet werden kann? Gehen wir zurück auf das, was bisher über die verschiedenen Verhält- nisse, wenn eine Urschrift da ist und wenn nicht, beiläufig gesagt worden ist, so müssen wir in Beziehung auf das N. T. sagen, es habe von demselben als Ganzem nie Urschriften gegeben, son- dern es sei nur ein Aggregat sehr verschieden gestalteter Abschrif- ten gewesen. Unter der Urschrift des ganzen N. T. könnte man nur verstehen das zuerst geschriebene Exemplar eines so zusammen- gestellten N. T. Was die einzelnen Bücher der Sammlung be- trifft, so waren die Evangelien wol als eigene Schriften ihrer Verfasser vorhanden, wenigstens Matthäus, Markus und Johan- nes. Mit Lukas ist es eine eigene Sache. Die Apostelgeschichte, als zweiter Theil des Evangeliums, sollte ursprünglich mit die- sem ein Ganzes bilden. Aber noch vor der Zusammenstellung des gesammten N. T. wurden die vier Evangelien zusammenge- schrieben, so daß also das erste Buch des Lukas von dem zwei- ten getrennt war. Welches die Ursache dieser Getrenntheit der beiden Bücher war, läßt sich eher vermuthen, als beweisen. Ge- wiß aber ist, daß es lange, ehe das N. T. als Sammlung ent- stand, Abschriften dieser Bücher gab. Nehmen wir die didaktischen Schriften, so ist die Sammlung der Paulinischen Briefe, die Pa- storalbriefe ausgenommen, die älteste. Diese waren eher zusam- mengestellt, als an ein ganzes N. T. zu denken war. Fragen wir, wann diese Zusammenstellung zuerst gemacht wurde, so kön-
ſelbſt in den kritiſchen Apparat hinein, der darin als der ſich von ſelbſt verſtehende angeſehen wird. Daraus erklaͤrt ſich, daß der kritiſche Apparat unvollſtaͤndig iſt, weil nicht angefuͤhrt iſt, welche Auctoritaͤten den gemeinen Text beſchuͤzen. Nur die Auctoritaͤten fuͤr die Abweichungen ſind angegeben, aber auch nicht alle, wie denn eine ſolche Vollſtaͤndigkeit auch nicht moͤglich waͤre. So iſt der gemeine Text immer maͤchtiger geworden; indem er den kriti- ſchen Bemuͤhungen zum Grunde liegt, beſtimmt er die Art und Weiſe, wie dieſelben hervortreten.
Unter dieſen Verhaͤltniſſen entſteht die Frage, was moͤglicher Weiſe fuͤr den neuteſtam. Text geleiſtet werden kann? Gehen wir zuruͤck auf das, was bisher uͤber die verſchiedenen Verhaͤlt- niſſe, wenn eine Urſchrift da iſt und wenn nicht, beilaͤufig geſagt worden iſt, ſo muͤſſen wir in Beziehung auf das N. T. ſagen, es habe von demſelben als Ganzem nie Urſchriften gegeben, ſon- dern es ſei nur ein Aggregat ſehr verſchieden geſtalteter Abſchrif- ten geweſen. Unter der Urſchrift des ganzen N. T. koͤnnte man nur verſtehen das zuerſt geſchriebene Exemplar eines ſo zuſammen- geſtellten N. T. Was die einzelnen Buͤcher der Sammlung be- trifft, ſo waren die Evangelien wol als eigene Schriften ihrer Verfaſſer vorhanden, wenigſtens Matthaͤus, Markus und Johan- nes. Mit Lukas iſt es eine eigene Sache. Die Apoſtelgeſchichte, als zweiter Theil des Evangeliums, ſollte urſpruͤnglich mit die- ſem ein Ganzes bilden. Aber noch vor der Zuſammenſtellung des geſammten N. T. wurden die vier Evangelien zuſammenge- ſchrieben, ſo daß alſo das erſte Buch des Lukas von dem zwei- ten getrennt war. Welches die Urſache dieſer Getrenntheit der beiden Buͤcher war, laͤßt ſich eher vermuthen, als beweiſen. Ge- wiß aber iſt, daß es lange, ehe das N. T. als Sammlung ent- ſtand, Abſchriften dieſer Buͤcher gab. Nehmen wir die didaktiſchen Schriften, ſo iſt die Sammlung der Pauliniſchen Briefe, die Pa- ſtoralbriefe ausgenommen, die aͤlteſte. Dieſe waren eher zuſam- mengeſtellt, als an ein ganzes N. T. zu denken war. Fragen wir, wann dieſe Zuſammenſtellung zuerſt gemacht wurde, ſo koͤn-
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ſelbſt in den kritiſchen Apparat hinein, der darin als der ſich von
ſelbſt verſtehende angeſehen wird. Daraus erklaͤrt ſich, daß der
kritiſche Apparat unvollſtaͤndig iſt, weil nicht angefuͤhrt iſt, welche
Auctoritaͤten den gemeinen Text beſchuͤzen. Nur die Auctoritaͤten
fuͤr die Abweichungen ſind angegeben, aber auch nicht alle, wie
denn eine ſolche Vollſtaͤndigkeit auch nicht moͤglich waͤre. So iſt
der gemeine Text immer maͤchtiger geworden; indem er den kriti-
ſchen Bemuͤhungen zum Grunde liegt, beſtimmt er die Art und
Weiſe, wie dieſelben hervortreten.
Unter dieſen Verhaͤltniſſen entſteht die Frage, was moͤglicher
Weiſe fuͤr den neuteſtam. Text geleiſtet werden kann? Gehen
wir zuruͤck auf das, was bisher uͤber die verſchiedenen Verhaͤlt-
niſſe, wenn eine Urſchrift da iſt und wenn nicht, beilaͤufig geſagt
worden iſt, ſo muͤſſen wir in Beziehung auf das N. T. ſagen,
es habe von demſelben als Ganzem nie Urſchriften gegeben, ſon-
dern es ſei nur ein Aggregat ſehr verſchieden geſtalteter Abſchrif-
ten geweſen. Unter der Urſchrift des ganzen N. T. koͤnnte man
nur verſtehen das zuerſt geſchriebene Exemplar eines ſo zuſammen-
geſtellten N. T. Was die einzelnen Buͤcher der Sammlung be-
trifft, ſo waren die Evangelien wol als eigene Schriften ihrer
Verfaſſer vorhanden, wenigſtens Matthaͤus, Markus und Johan-
nes. Mit Lukas iſt es eine eigene Sache. Die Apoſtelgeſchichte,
als zweiter Theil des Evangeliums, ſollte urſpruͤnglich mit die-
ſem ein Ganzes bilden. Aber noch vor der Zuſammenſtellung
des geſammten N. T. wurden die vier Evangelien zuſammenge-
ſchrieben, ſo daß alſo das erſte Buch des Lukas von dem zwei-
ten getrennt war. Welches die Urſache dieſer Getrenntheit der
beiden Buͤcher war, laͤßt ſich eher vermuthen, als beweiſen. Ge-
wiß aber iſt, daß es lange, ehe das N. T. als Sammlung ent-
ſtand, Abſchriften dieſer Buͤcher gab. Nehmen wir die didaktiſchen
Schriften, ſo iſt die Sammlung der Pauliniſchen Briefe, die Pa-
ſtoralbriefe ausgenommen, die aͤlteſte. Dieſe waren eher zuſam-
mengeſtellt, als an ein ganzes N. T. zu denken war. Fragen
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/330>, abgerufen am 05.12.2024.
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