bestimmten Zeit, oder den ältesten, der sich aus dem Vorhande- nen ausmitteln läßt, darzustellen, fragen wir, was ist in dem ei- nen und andern Falle die Befugniß des Lesers?
Wir unterscheiden in der Aufgabe des Lesers einmal die ein- fache hermeneutische Operation, dann die rein philologische in Beziehung auf die gesammte neutestam. Sprache. Hier ist nun zweierlei möglich. Einmal ist in vielen Fällen aus dem gegebe- nen Apparat zu wählen, sofern uns der Herausgeber nur diese Freiheit gelassen hat. Dann aber ist auch möglich, darüber hin- auszugehen und sich der divinatorischen Kritik zu bedienen.
Denken wir uns einen Text, der in eine bestimmte Zeit des kirchlichen Alterthums zurückführt. Wissen wir nun, zu der Zeit ist dieß in gewissen Regionen der Kirche am meisten verbrei- tet gewesen, jenes in andern, so ist dieß ein sehr günstiger Fall, wenn wir annehmen können, daß sich dieß mit einer gewissen Sicherheit bestimmen läßt. Sind wir dann befugt, aus irgend einem Interesse darüber hinauszugehen und divinatorisch etwas Anderes zu machen? Sind wir dazu befugt, ohnerachtet wir einen Text vor uns haben, der seines Wissens auch kein Re- sultat der divinatorischen Kritik in sich hat, aber freilich nur sei- nes Wissens?
Man hat diese Befugniß wegen der besonderen kritischen Beschaffenheit des N. T. geleugnet. Allerdings ist die Masse ur- kundlicher Subsidien bei dem N. T. größer, als bei irgend einem classischen Schriftsteller. Allein da die größere Masse der Urkun- den aus einer späteren Zeit ist, so haben wir keinen Grund, das N. T. kritisch anders zu behandeln, als die Profanscribenten. Dürfen wir nun bei dem N. T. divinatorisch verfahren, so haben wir zu unterscheiden zwischen der einfachen hermeneutischen Auf- gabe und der streng philologischen. Bleiben wir bei der ein- fachen hermeneutischen Aufgabe stehen, so sind Fälle denkbar, wo alles Urkundliche keinen Sinn giebt. Soll ich dann die herme- neutische Aufgabe ungelöst lassen? Das kann ich nicht, und wollte ich es auch nur zweifelhaft lassen, was die gegebene Stelle für
beſtimmten Zeit, oder den aͤlteſten, der ſich aus dem Vorhande- nen ausmitteln laͤßt, darzuſtellen, fragen wir, was iſt in dem ei- nen und andern Falle die Befugniß des Leſers?
Wir unterſcheiden in der Aufgabe des Leſers einmal die ein- fache hermeneutiſche Operation, dann die rein philologiſche in Beziehung auf die geſammte neuteſtam. Sprache. Hier iſt nun zweierlei moͤglich. Einmal iſt in vielen Faͤllen aus dem gegebe- nen Apparat zu waͤhlen, ſofern uns der Herausgeber nur dieſe Freiheit gelaſſen hat. Dann aber iſt auch moͤglich, daruͤber hin- auszugehen und ſich der divinatoriſchen Kritik zu bedienen.
Denken wir uns einen Text, der in eine beſtimmte Zeit des kirchlichen Alterthums zuruͤckfuͤhrt. Wiſſen wir nun, zu der Zeit iſt dieß in gewiſſen Regionen der Kirche am meiſten verbrei- tet geweſen, jenes in andern, ſo iſt dieß ein ſehr guͤnſtiger Fall, wenn wir annehmen koͤnnen, daß ſich dieß mit einer gewiſſen Sicherheit beſtimmen laͤßt. Sind wir dann befugt, aus irgend einem Intereſſe daruͤber hinauszugehen und divinatoriſch etwas Anderes zu machen? Sind wir dazu befugt, ohnerachtet wir einen Text vor uns haben, der ſeines Wiſſens auch kein Re- ſultat der divinatoriſchen Kritik in ſich hat, aber freilich nur ſei- nes Wiſſens?
Man hat dieſe Befugniß wegen der beſonderen kritiſchen Beſchaffenheit des N. T. geleugnet. Allerdings iſt die Maſſe ur- kundlicher Subſidien bei dem N. T. groͤßer, als bei irgend einem claſſiſchen Schriftſteller. Allein da die groͤßere Maſſe der Urkun- den aus einer ſpaͤteren Zeit iſt, ſo haben wir keinen Grund, das N. T. kritiſch anders zu behandeln, als die Profanſcribenten. Duͤrfen wir nun bei dem N. T. divinatoriſch verfahren, ſo haben wir zu unterſcheiden zwiſchen der einfachen hermeneutiſchen Auf- gabe und der ſtreng philologiſchen. Bleiben wir bei der ein- fachen hermeneutiſchen Aufgabe ſtehen, ſo ſind Faͤlle denkbar, wo alles Urkundliche keinen Sinn giebt. Soll ich dann die herme- neutiſche Aufgabe ungeloͤſt laſſen? Das kann ich nicht, und wollte ich es auch nur zweifelhaft laſſen, was die gegebene Stelle fuͤr
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beſtimmten Zeit, oder den aͤlteſten, der ſich aus dem Vorhande-
nen ausmitteln laͤßt, darzuſtellen, fragen wir, was iſt in dem ei-
nen und andern Falle die Befugniß des Leſers?
Wir unterſcheiden in der Aufgabe des Leſers einmal die ein-
fache hermeneutiſche Operation, dann die rein philologiſche in
Beziehung auf die geſammte neuteſtam. Sprache. Hier iſt nun
zweierlei moͤglich. Einmal iſt in vielen Faͤllen aus dem gegebe-
nen Apparat zu waͤhlen, ſofern uns der Herausgeber nur dieſe
Freiheit gelaſſen hat. Dann aber iſt auch moͤglich, daruͤber hin-
auszugehen und ſich der divinatoriſchen Kritik zu bedienen.
Denken wir uns einen Text, der in eine beſtimmte Zeit
des kirchlichen Alterthums zuruͤckfuͤhrt. Wiſſen wir nun, zu der
Zeit iſt dieß in gewiſſen Regionen der Kirche am meiſten verbrei-
tet geweſen, jenes in andern, ſo iſt dieß ein ſehr guͤnſtiger Fall,
wenn wir annehmen koͤnnen, daß ſich dieß mit einer gewiſſen
Sicherheit beſtimmen laͤßt. Sind wir dann befugt, aus irgend
einem Intereſſe daruͤber hinauszugehen und divinatoriſch etwas
Anderes zu machen? Sind wir dazu befugt, ohnerachtet wir
einen Text vor uns haben, der ſeines Wiſſens auch kein Re-
ſultat der divinatoriſchen Kritik in ſich hat, aber freilich nur ſei-
nes Wiſſens?
Man hat dieſe Befugniß wegen der beſonderen kritiſchen
Beſchaffenheit des N. T. geleugnet. Allerdings iſt die Maſſe ur-
kundlicher Subſidien bei dem N. T. groͤßer, als bei irgend einem
claſſiſchen Schriftſteller. Allein da die groͤßere Maſſe der Urkun-
den aus einer ſpaͤteren Zeit iſt, ſo haben wir keinen Grund, das
N. T. kritiſch anders zu behandeln, als die Profanſcribenten.
Duͤrfen wir nun bei dem N. T. divinatoriſch verfahren, ſo haben
wir zu unterſcheiden zwiſchen der einfachen hermeneutiſchen Auf-
gabe und der ſtreng philologiſchen. Bleiben wir bei der ein-
fachen hermeneutiſchen Aufgabe ſtehen, ſo ſind Faͤlle denkbar, wo
alles Urkundliche keinen Sinn giebt. Soll ich dann die herme-
neutiſche Aufgabe ungeloͤſt laſſen? Das kann ich nicht, und wollte
ich es auch nur zweifelhaft laſſen, was die gegebene Stelle fuͤr
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/334>, abgerufen am 05.12.2024.
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